Ich hatte dich lieb, mein Töchterlein!
Und nun ich dich habe begraben,
mach’ ich mir Vorwürf’, ich hätte fein
noch lieber dich können haben.
Ich habe dich lieber, viel lieber gehabt,
als ich dir’s mochte zeigen;
zu selten mit Liebeszeichen begabt
hat dich mein ernstes Schweigen.
Ich habe dich lieb gehabt, so lieb,
auch wenn ich dich streng gescholten;
was ich von Liebe dir schuldig blieb,
sei zwiefach dir jetzt vergolten!
Zuoft verbarg sich hinter der Zucht
die Vaterlieb’ im Gemüthe;
ich hatte schon im Auge die Frucht,
anstatt mich zu freun an der Blüte.
O hätt’ ich gewußt, wie bald der Wind
die Blüt’ entblättern sollte!
Thun hätt’ ich sollen meinem Kind,
was alles sein Herzchen wollte.
Da solltest du, was ich wollte, thun,
und thatst es auf meine Winke.
Du trankst das Bittre, wie reut mich’s nun,
weil ich dir sagte: trinke!
Dein Mund, geschlossen von Todeskrampf,
hat meinem Gebot sich erschlossen;
ach! nur zu verlängern den Todeskampf,
hat man dir’s eingegossen.
Du aber hast, vom Tod umstrickt,
noch deinem Vater geschmeichelt,
mit brechenden Augen ihn angeblickt,
mit sterbenden Händchen gestreichelt.
Was hat mir gesagt die streichelnde Hand,
da schon die Rede dir fehlte?
Daß du verziehest den Unverstand,
der dich gutmeinend quälte.
Nun bitt’ ich dir ab jedes harte Wort,
die Worte, die dich bedräuten,
du wirst sie haben vergessen dort
oder weißt sie zu deuten.
Kurz eingeordnet
Friedrich Rückert hat die „Kindertodtenlieder“ (siehe Folge 7 und 19), die er nach dem Verlust der dreijährigen Luise und des fünfjährigen Ernst verfasste, zeitlebens nie als Sammlung herausgebracht. Erst 1872 publizierte sie sein Sohn Heinrich – gekürzt und neu sortiert; Hans Wollschläger ist es zu verdanken, dass diese Werke heute in ihrer ursprünglichen und kraftvollen Form vorliegen.
In diesem Gedicht macht sich das lyrische Ich, womit hier eindeutig Friedrich Rückert selbst gemeint ist, arge Vorwürfe, weil er seine kleine Tochter erzieherisch gescholten hat. Es ist schade, denke ich, wenn ich diese berührenden Verse lese, dass wir immer noch glauben, unsere Kinder „erziehen“ zu müssen, wo doch eine echte, ehrliche „Beziehung“ völlig ausreicht. Das ist keine Idee von mir, sondern eine von Jesper Juul, dem wahrscheinlich wichtigsten und sympathischsten Familientherapeuten Dänemarks. Er plädierte für ein „Nein aus Liebe“ (so ein Buchtitel von ihm), aber auch dafür, nicht der Erziehung wegen zu erziehen, weil es die eigenen Eltern so getan haben; es geht um Grenzen, die man selbst fühlt!
Wie anders Erziehung und Zusammenleben mit Kindern im vorvergangenen Jahrhundert war, spürt man durch die Zeilen dieser zehn mitreißenden und traurig stimmenden Strophen, die dadurch in unsere Zeit hineinragen. Warum nur, frage ich mich, warum machen wir es uns als Menschen so schwer? Zumal die Zeit kurz ist, überaus kurz, die uns bleibt.
P.S. Wenn man sich die Themen der vielen, vielen Rückert-Gedichte anschaut, merkt man, dass es eine Zeit vor und nach den „Kindertodtenliedern“ (1834 geschrieben) gegeben hat. Machte der Familienvater und Dichter vorher Zugeständnisse an den Massengeschmack, tat er das nach dem Scharlachtod der zwei Kinder nicht mehr! Die Bildnisse von Luise und Ernst nahm er sogar ins ungeliebte Berlin mit und hängte sie in sein Arbeitszimmer. Ein schwacher Trost, aber immerhin, ein Trost.