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Liebe Freundinnen und Freunde des guten Wortes,
liebe Lyrikfans,

zwei beispielhafte Stimmen zum gestrigen Gedicht sollen es heute sein! So schrieb die Musikerin Elisabeth Oltzen: "Was für ein Appell an die Meinungsfreiheit, gepaart mit innerlicher Empfindung und Authentizität! lch mag das Gedicht sehr! Die 'alte Sprache' zeigt mir, wie schnell sich Sprache verändert und trotzdem noch verständlich ist." Rudolf B. Kondler ergänzt: "Danke für den Tag-24-Rückert. Sehr weise Sätze. Ich sage seit langer Zeit, das Leben ist ein Labyrinth, es ist so, wie es ist, es ist so oder nicht so oder ganz anders."

Außerdem soll nun eine Nachricht zur Sprache kommen, die mich kurz nach Tag 18 (Übersetzung der Sure) erreicht hat. Sie stammt vom Dr. Stephan Popp, der am Wiener Institut für Iranistik arbeitet und Rückerts Fähigkeiten als Übersetzer für uns alle einordnet: "Vielen Dank für Ihr Rückert-Projekt! Sie bringen mir jetzt nach langen Jahren den Dichter Rückert nahe. Bisher kannte ich ihn als genialen Übersetzer, vielleicht sogar als den genialsten überhaupt. Da ich Persisch kann und ein bisschen Sanskrit, kann ich in etwa ermessen, was es heißt, ein Gedicht mit einem kniffligen Versmaß und einem einzigen durchgehenden Reim ins Deutsche zu bringen und dabei auch noch schön zu schreiben. Im Persischen reimen sämtliche Plurale, sämtliche Infinitive, sämtliche Partizipien, und man macht den Reim öfters vier, fünf Silben lang, damit er nicht gar so einfach ist. Rückert kann das auf Deutsch. Rückert übersetzt Rumi und ich denke: Hätte Rumi deutsch gekonnt, hätte er das so geschrieben. Er übersetzt Hafis und ich denke: Hätte Hafis deutsch gekonnt, hätte er das so geschrieben. Dabei ist zwischen Rumi mit seiner spontanen Metaphorik und seinen stampfenden Rhythmen und dem eher konventionelle Bilder verwendenden, aber rasch die Rollen wechselnd minnesingenden Ein-Mann-Theater Hafis durchaus ein Unterschied. Dann wagt er sich an den Renaissancedichter Jami und das Gleiche passiert: Hätte Jami deutsch gekonnt, hätte er das so geschrieben. Schließlich lernt Rückert Sanskrit, bringt Jayadeva Deutsch bei und bekommt es fertig, die ganze knisternde Erotik zwischen Radha und Krishna im Originalversmaß auf Deutsch rüberzubringen. Nur die Schlussverse, die die Erotik dann ins Religiöse wenden, hat sich Rückert nicht mitzuübersetzen getraut. Das ist ein bisschen schade, weil es Jayadeva genau darauf ankommt: wir alle sind Radha, und die ewig wechselnde Welt ist der ewig wechselnde Flirt des Playboygottes Krishna. Aber für Rückerts Zeit war das dann wohl doch zuviel. Diese Seite Rückerts kenne ich. Jetzt lerne ich von Ihnen, was er sonst so schrieb. Auch das ist viel abwechslungsreicher, als ich vermutet habe. Ich bin gespannt, was noch kommt."

Ein schöner Schluss- und Einstiegssatz für das heutige Gedicht. Es muss noch einmal, ein letztes Mal, ein "Kindertodtenlied" sein, weil es viel über die Erziehung des 19. Jahrhunderts aussagt.

Herzliche Grüße,
Matthias Kröner

 

Ich hatte dich lieb, mein Töchterlein!
Und nun ich dich habe begraben,
mach’ ich mir Vorwürf’, ich hätte fein
noch lieber dich können haben.

Ich habe dich lieber, viel lieber gehabt,
als ich dir’s mochte zeigen;
zu selten mit Liebeszeichen begabt
hat dich mein ernstes Schweigen.

Ich habe dich lieb gehabt, so lieb,
auch wenn ich dich streng gescholten;
was ich von Liebe dir schuldig blieb,
sei zwiefach dir jetzt vergolten!

Zuoft verbarg sich hinter der Zucht
die Vaterlieb’ im Gemüthe;
ich hatte schon im Auge die Frucht,
anstatt mich zu freun an der Blüte.

O hätt’ ich gewußt, wie bald der Wind
die Blüt’ entblättern sollte!
Thun hätt’ ich sollen meinem Kind,
was alles sein Herzchen wollte.

Da solltest du, was ich wollte, thun,
und thatst es auf meine Winke.
Du trankst das Bittre, wie reut mich’s nun,
weil ich dir sagte: trinke!

Dein Mund, geschlossen von Todeskrampf,
hat meinem Gebot sich erschlossen;
ach! nur zu verlängern den Todeskampf,
hat man dir’s eingegossen.

Du aber hast, vom Tod umstrickt,
noch deinem Vater geschmeichelt,
mit brechenden Augen ihn angeblickt,
mit sterbenden Händchen gestreichelt.

Was hat mir gesagt die streichelnde Hand,
da schon die Rede dir fehlte?
Daß du verziehest den Unverstand,
der dich gutmeinend quälte.

Nun bitt’ ich dir ab jedes harte Wort,
die Worte, die dich bedräuten,
du wirst sie haben vergessen dort
oder weißt sie zu deuten.

 

Kurz eingeordnet

Friedrich Rückert hat die „Kindertodtenlieder“ (siehe Folge 7 und 19), die er nach dem Verlust der dreijährigen Luise und des fünfjährigen Ernst verfasste, zeitlebens nie als Sammlung herausgebracht. Erst 1872 publizierte sie sein Sohn Heinrich – gekürzt und neu sortiert; Hans Wollschläger ist es zu verdanken, dass diese Werke heute in ihrer ursprünglichen und kraftvollen Form vorliegen.
In diesem Gedicht macht sich das lyrische Ich, womit hier eindeutig Friedrich Rückert selbst gemeint ist, arge Vorwürfe, weil er seine kleine Tochter erzieherisch gescholten hat. Es ist schade, denke ich, wenn ich diese berührenden Verse lese, dass wir immer noch glauben, unsere Kinder „erziehen“ zu müssen, wo doch eine echte, ehrliche „Beziehung“ völlig ausreicht. Das ist keine Idee von mir, sondern eine von Jesper Juul, dem wahrscheinlich wichtigsten und sympathischsten Familientherapeuten Dänemarks. Er plädierte für ein „Nein aus Liebe“ (so ein Buchtitel von ihm), aber auch dafür, nicht der Erziehung wegen zu erziehen, weil es die eigenen Eltern so getan haben; es geht um Grenzen, die man selbst fühlt!
Wie anders Erziehung und Zusammenleben mit Kindern im vorvergangenen Jahrhundert war, spürt man durch die Zeilen dieser zehn mitreißenden und traurig stimmenden Strophen, die dadurch in unsere Zeit hineinragen. Warum nur, frage ich mich, warum machen wir es uns als Menschen so schwer? Zumal die Zeit kurz ist, überaus kurz, die uns bleibt.

 

P.S. Wenn man sich die Themen der vielen, vielen Rückert-Gedichte anschaut, merkt man, dass es eine Zeit vor und nach den „Kindertodtenliedern“ (1834 geschrieben) gegeben hat. Machte der Familienvater und Dichter vorher Zugeständnisse an den Massengeschmack, tat er das nach dem Scharlachtod der zwei Kinder nicht mehr! Die Bildnisse von Luise und Ernst nahm er sogar ins ungeliebte Berlin mit und hängte sie in sein Arbeitszimmer. Ein schwacher Trost, aber immerhin, ein Trost.

 

 

 

 

P.S. Das Rückert-Projekt wird von der Stadt Schweinfurt, der Rückert-Gesellschaft e. V. und der Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten e. V. gefördert. Vielen Dank dafür – ohne diese Unterstützung wäre das Projekt nicht möglich!

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 Rückert Gesellschaft

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