Du bist ein Schatten am Tage
und in der Nacht ein Licht;
du lebst in meiner Klage
und stirbst im Herzen nicht.
Wo ich mein Zelt aufschlage,
da wohnst du bei mir dicht;
du bist mein Schatten am Tage
und in der Nacht mein Licht.
Wo ich auch nach dir frage,
find’ ich von dir Bericht,
du lebst in meiner Klage
und stirbst im Herzen nicht.
Du bist ein Schatten am Tage,
doch in der Nacht ein Licht;
du lebst in meiner Klage
und stirbst im Herzen nicht.
Kurz eingeordnet
Einer der Klassiker von Rückerts „Kindertodtenliedern“ (zu deren Hintergründen ich schon in Folge 7 gesprochen habe!) ist dieses Gedicht, das der weithin bekannte Schriftsteller zeitlebens nicht veröffentlicht hat; nur in Almanachen und ähnlichen Sammelwerken kamen manchmal diese Werke, die zum Besten gehören, was Rückert je geschrieben hat, in die Welt. Ob der verzweifelte Vater mit seinem Verlust allein sein wollte, ob es sich einfach nicht schickte, solche Gefühle in all ihrer Ehrlichkeit und Bedrücktheit öffentlich zu machen oder ob Rückert fürchtete, kein Publikum dafür zu finden, ist schwer zu sagen. Fakt ist, dass er die obsessiv niedergeschriebenen Trauertexte als „unsägliche Masse“ bezeichnete, sich durch die Beschäftigung mit der spanischen Literaturgeschichte eigentlich davon ablenken wollte, doch immer wieder zurückmusste – zu seinem Schmerz. Zuletzt schenkte Friedrich das Manuskript seiner Frau Luise, die es manchmal an Freunde verlieh, doch vor allem selbst daraus Trost schöpfte.
So weit, so tragisch! Doch warum ist gerade dieses Gedicht ein Klassiker? Es hängt mit der Form zusammen, die Rückert wählt: das Ghasel. Dabei handelt es sich um eine arabische Spielart der Dichtkunst, bei der immer wieder einzelne Reimworte, ja ganze Zeilen wiederholt werden. Wie in einem Gebet vergewissert sich Rückert seiner selbst und behauptet durch exzessive Wiederholungen („Schatten“, „Licht“, „Klage“, „Tage“) das Weiterleben seiner geliebten „Messerchen“ (Ernst, 5 Jahre) und „Gäbelchen“ (Luise, 3 Jahre) – in der Kunst!
P.S. Rückert hat Ghaselen zum ersten Mal in seinen „Östlichen Rosen“ von 1822 veröffentlicht – und wäre damit der erste Schriftsteller gewesen, der diese Form in Deutschland eingeführt hat. Wäre! Die Unzuverlässigkeit seines Verlegers Friedrich Arnold Brockhaus (der mit dem Lexikon!), der die Herausgabe des Buches immer wieder verzögerte, brachte ihn um den Ruhm, den August Graf von Platen einheimste. Der Freund und Dichterkollege veröffentlichte 1821 (!) den Band „Ghaselen“ …
P.P.S. Man mag es nicht glauben, aber sogar eine deutsche Metalband, Maroon, hat sich des Gedichts angenommen – und es vertont. 7 Minuten und 35 Sekunden dauert es und ist ein bisschen gewöhnungsbedürftig, aber textgetreu! Das wiederum hätte Karl Krolow gefreut, der dieses Rückertsche Ghasel als eines der „kunstvollsten“ Gedichte des 19. Jahrhunderts in deutscher Zunge pries.