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Liebe Freundinnen und Freunde des guten Wortes,
liebe Lyrikfans,

zunächst möchte ich auf zwei kleine Fehlerchen hinweisen. An Tag 21 sage ich, dass Rückert 1934 seine "Gesammelten Gedichte" beim Erlanger Verleger Carl Heyder veröffentlicht hat; es muss natürlich 1834 heißen! An Tag 23 spreche ich im P.S. von "Kaffeekirchen"; es muss selbstverständlich "Kaffeekirschen" heißen. Wie schön, dass Sie alle nach wie vor so aufmerksam und dabei sind!

Außerdem hat sich ein Leser zum dritten "Kindertodtenlied" gemeldet und sehr gute Worte dafür gefunden: "In der Begleitung Trauernder (ich habe als Arzt u. a. auch Trauergruppen geleitet) begegnete mir häufig das gleiche Bedauern, dieser unendliche Schmerz darüber, gefühlt oder tatsächlich zu wenig Zuneigung oder Verbundenheit gezeigt zu haben. Das Gedicht erinnert uns auch daran, den Andern wirklich in seiner Wesenheit zu sehen und nicht die auf ihn geworfenen Projektionen, in die man ihn – wie mit einer Fotobearbeitungsapp – versucht, hineinzukopieren, Wesen-tliches wegretuschierend. In der heutigen Zeit könnte sich auch die Frage stellen, wie es wohl jemandem gehen mag, der mehr in sein Handy hinein- als seine Liebsten wirklich angeschaut hat? Der mehr im Cyberspace gechattet hat, statt mit ihnen über Leichtes oder Beschwerliches analoge Gespräche zu führen? Was, wenn dieser 'Chatroom' dann für immer geschlossen ist?"

Eine sehr gute Frage, die uns zu einem aufwühlenden Gedicht von Friedrich Rückert führt. Es spielt zur Mitternachtszeit!

Viel Vergnügen,
Ihr Matthias Kröner

 

 

Um Mitternacht
hab’ ich gewacht
und aufgeblickt zum Himmel;
kein Stern vom Sterngewimmel
hat mir gelacht
um Mitternacht.

Um Mitternacht
hab’ ich gedacht
hinaus in dunkle Schranken;
es hat kein Lichtgedanken
mir Trost gebracht
um Mitternacht.

Um Mitternacht
nahm ich in acht
die Schläge meines Herzens;
ein einz’ger Puls des Schmerzens
war angefacht
um Mitternacht.

Um Mitternacht
kämpft’ ich die Schlacht,
o Menschheit, deiner Leiden;
nicht konnt’ ich sie entscheiden
mit meiner Macht
um Mitternacht.

Um Mitternacht
hab’ ich die Macht
in deine Hand gegeben:
Herr über Tod und Leben,
du hältst die Wacht
um Mitternacht.

 

Kurz eingeordnet

Manchmal stören mich die christlichen Pointen bei Friedrich Rückert sehr! So auch im eigentlich so guten Gedicht Gestern hats geschneiet (etwas nach unten scrollen!), das die „Titanic“ in Auszügen sogar einer Humorkritik unterzogen hat.
Auch bei den oben stehenden Mitternachtszeilen kann einen die letzte Strophe verdrießen, wo doch zuvor so gut und klar und dramatisch und mit schnellen Versfüßen (die die schnellen Herzschläge imitieren) diese verfluchten nächtlichen Kopfgespenster auf Papier gebannt werden. Anders gesagt: Wenn man nachts aufwacht, weil man sich über eine Sache extrem ärgert oder, noch schlimmer, ernsthafte Sorgen hat, legt die Rattermaschine in einem los. Die Gedanken machen sich selbstständig, fallen über einen her – und man hat keine Chance dieser Attacken Herr zu werden! Es sei denn: man kapituliert.
Ich kann mir vorstellen, dass Friedrich Rückert genau das meint, wenn er die „Schmerzen“ und „Leiden“ loslässt und die „Schlacht“, die er zuvor schlägt, nicht mehr kämpft, und die „Macht“ an Gott weitergibt. Es wird schon gutgehen, denn: „du hältst die Wacht / um Mitternacht“.
Also alles fein – oder wie? Nun ja, mir gefällt die Verengung der Rückertschen Verse nicht. Was ist mit Menschen, die nicht glauben? Haben sie keine Chance, die Irrungen und Wirrungen rund um die Geisterstunde (die ja die Stunde des unruhigen Geistes ist) loszuwerden? Ich finde schon! Dabei gebe ich Rückert auch Recht, dass man seine Probleme nach außen verlagern muss. Alles andere hat keinen Sinn – und wird zur Bodenlosigkeit, die einen selbst verschlingt. Man kann nur die Gedanken wie Vögel freilassen und ins Urvertrauen gehen. Dorthin, wo man getragen wird!
Doch ich meine, ein (christlicher) Gott ist dazu nicht nötig. Es geht darum, die eigene ach so übergroße Bedeutung loszulassen, sich etwas Größerem hinzugeben, einem Bereich, in dem man vor sich selbst zurücktritt – und klein wird, ganz klein.
Ist das nicht Spiritualität? Vielleicht, doch vor allem ist es Psychohygiene, die wir gerade zur Mitternacht sehr, sehr nötig haben. Sonst wird sie zur Bitternacht.

 

P.S. Wieder einmal ist es Gustav Mahler, der dieses Mitternachtspoem vertont. Der Komponist hielt Friedrich Rückert (den er, 72 Jahre später geboren, nie kennenlernte) für den wichtigsten Dichter des 19. Jahrhunderts: „Lyrik aus erster Hand, alles andere ist Lyrik aus zweiter Hand.“ 1901, in den Sommerferien am Wörthersee, fand Mahler Töne für Rückerts Worte.

 

 

 

 

P.S. Das Rückert-Projekt wird von der Stadt Schweinfurt, der Rückert-Gesellschaft e. V. und der Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten e. V. gefördert. Vielen Dank dafür – ohne diese Unterstützung wäre das Projekt nicht möglich!

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 Rückert Gesellschaft

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