Um Mitternacht
hab’ ich gewacht
und aufgeblickt zum Himmel;
kein Stern vom Sterngewimmel
hat mir gelacht
um Mitternacht.
Um Mitternacht
hab’ ich gedacht
hinaus in dunkle Schranken;
es hat kein Lichtgedanken
mir Trost gebracht
um Mitternacht.
Um Mitternacht
nahm ich in acht
die Schläge meines Herzens;
ein einz’ger Puls des Schmerzens
war angefacht
um Mitternacht.
Um Mitternacht
kämpft’ ich die Schlacht,
o Menschheit, deiner Leiden;
nicht konnt’ ich sie entscheiden
mit meiner Macht
um Mitternacht.
Um Mitternacht
hab’ ich die Macht
in deine Hand gegeben:
Herr über Tod und Leben,
du hältst die Wacht
um Mitternacht.
Kurz eingeordnet
Manchmal stören mich die christlichen Pointen bei Friedrich Rückert sehr! So auch im eigentlich so guten Gedicht Gestern hats geschneiet (etwas nach unten scrollen!), das die „Titanic“ in Auszügen sogar einer Humorkritik unterzogen hat.
Auch bei den oben stehenden Mitternachtszeilen kann einen die letzte Strophe verdrießen, wo doch zuvor so gut und klar und dramatisch und mit schnellen Versfüßen (die die schnellen Herzschläge imitieren) diese verfluchten nächtlichen Kopfgespenster auf Papier gebannt werden. Anders gesagt: Wenn man nachts aufwacht, weil man sich über eine Sache extrem ärgert oder, noch schlimmer, ernsthafte Sorgen hat, legt die Rattermaschine in einem los. Die Gedanken machen sich selbstständig, fallen über einen her – und man hat keine Chance dieser Attacken Herr zu werden! Es sei denn: man kapituliert.
Ich kann mir vorstellen, dass Friedrich Rückert genau das meint, wenn er die „Schmerzen“ und „Leiden“ loslässt und die „Schlacht“, die er zuvor schlägt, nicht mehr kämpft, und die „Macht“ an Gott weitergibt. Es wird schon gutgehen, denn: „du hältst die Wacht / um Mitternacht“.
Also alles fein – oder wie? Nun ja, mir gefällt die Verengung der Rückertschen Verse nicht. Was ist mit Menschen, die nicht glauben? Haben sie keine Chance, die Irrungen und Wirrungen rund um die Geisterstunde (die ja die Stunde des unruhigen Geistes ist) loszuwerden? Ich finde schon! Dabei gebe ich Rückert auch Recht, dass man seine Probleme nach außen verlagern muss. Alles andere hat keinen Sinn – und wird zur Bodenlosigkeit, die einen selbst verschlingt. Man kann nur die Gedanken wie Vögel freilassen und ins Urvertrauen gehen. Dorthin, wo man getragen wird!
Doch ich meine, ein (christlicher) Gott ist dazu nicht nötig. Es geht darum, die eigene ach so übergroße Bedeutung loszulassen, sich etwas Größerem hinzugeben, einem Bereich, in dem man vor sich selbst zurücktritt – und klein wird, ganz klein.
Ist das nicht Spiritualität? Vielleicht, doch vor allem ist es Psychohygiene, die wir gerade zur Mitternacht sehr, sehr nötig haben. Sonst wird sie zur Bitternacht.
P.S. Wieder einmal ist es Gustav Mahler, der dieses Mitternachtspoem vertont. Der Komponist hielt Friedrich Rückert (den er, 72 Jahre später geboren, nie kennenlernte) für den wichtigsten Dichter des 19. Jahrhunderts: „Lyrik aus erster Hand, alles andere ist Lyrik aus zweiter Hand.“ 1901, in den Sommerferien am Wörthersee, fand Mahler Töne für Rückerts Worte.