Liebe Freundinnen und Freunde des guten Wortes,
liebe Lyrikfans,
da erreicht mich doch gestern eine Nachricht, die so beginnt: "Lieber Herr Rückert"! Ist es schon soweit? Habe ich mich transformiert? Manchmal glaube ich das fast, wie man als Schauspieler ja auch immer ein bisschen die Person ist, die man spielt. Ich mime Rückert zwar nicht, grabe mich aber tief in sein Leben, in die Tatsachen, die bekannt sind, und natürlich in seine Lyrik.
Andrea Schatz, die diese Mail geschrieben hat, fährt fort: "Ich kann kaum glauben, was hier abgeht! Da verbindet sich ein unglaublich berührendes Gedicht (Schatten) mit härtestem Metal, den ich sehr gerne mag und, schwupps, verpassen mir meine Synapsen einen solchen Schwung, dass ich vor Freude, trotz des traurigen Textes, in die Luft springen mag! So verwoben ist unsere Welt … Ich hatte aufgrund der IT-Thematik ein wenig den Faden verloren, nur um zu erkennen, dass ich mit voller Wucht zurück bin."
Ich kann gar nicht sagen, wie sehr mich das freut. Schön, dass auch die Newsletter wieder ankommen! Eine zweite Mail, die unbedingt genannt werden muss, stammt von Peter Fuchs. Der Leser verweist auf eine mir unbekannte und mich umso stärker packende Vertonung des "Schatten"-Ghasel (ab Minute 18.30!) auf dem Deutschen Jazzfestival 2022 – ich höre sie mir an und muss sagen: Ich bin begeistert, was die Rabih Abou-Khalil Group und Elina Duni hier anstellen! Dazu schreibt Herr Fuchs: "Beeindruckend finde ich es immer, wenn zwei Künste, wie hier die Dichtkunst und die Welt der Musik, zusammenfinden, es bereichert unser Dasein ungemein."
Man sieht, das Vergangene und das Gegenwärtige berühren sich. Wir leben nie nur im Hier und Jetzt, sondern meist im Dazwischen einer schwer zu packenden Gegenwart. Und ich glaube, das ist genau so gut und richtig.
Apropos Zeit und Gegenwart: Rückerts Zeit in Erlangen war nicht leicht für ihn! Warum, das erfahren Sie im heutigen Gedicht, das, wie jede gute Literatur, weiter gefächert ist und natürlich immer über die Lebensdaten hinausreicht und etwas Überzeitliches wird.
Viel Vergnügen,
Matthias Kröner
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Bekehrung
Ich war schon ziemlich ein Christ,
und wär’ es noch mehr geworden;
doch mir verleidet ist
auf einmal der ganze Orden.
Ihr machtet es mir zu toll
mit eurem christlichen Leide;
mein Herz ist noch freudenvoll,
darum bin ich ein Heide.
Bricht einst mein Lebensmuth,
dann könnt ihr vielleicht mich erwerben;
denn eure Lehr’ ist gut
zu nichts auf der Welt als zum Sterben.
Kurz eingeordnet
Ein „Heide“, wie sich das lyrische Ich in diesem Gedicht bezeichnet, war Rückert nie! Er war ein „ziemlich“ überzeugter Protestant alter Schule und hatte es damit im ziemlich bigotten Erlangen ziemlich schwer … 1826, als der finanziell in Schwierigkeiten steckende Schriftsteller dort eine Professur annahm, regierte die „Erlanger Schule“, eine neulutherische Erweckungsbewegung, die lediglich eine Sicht der Dinge zuließ: die eigene.
Rückert wiederum war vom evangelischen Rationalismus geprägt, einer Glaubensauffassung, die die kritische Erforschung der Bibel schätzte. Kein Wunder, dass es knirschte und knackte! Ein freier, offener Geist, der sich fremden Sprachen und Kulturen zuwandte, passte nicht zu einer Theologie, die die Frömmigkeit über die Vernunft stellte …
Seine enge Freundschaft zu Joseph Kopp, einem Sprachkundler und Philosophen, der seinerseits mit Ludwig Feuerbach („Der Mensch schuf Gott nach seinem Bilde.“) befreundet war, isolierte Friedrich Rückert mehr und mehr. Im Juni 1841, als der Orientalist Richtung Berlin aufbrach, dichtete er verzweifelt und niedergeschlagen: „So nicht aus dem Leben gehn / möcht’ ich wie aus dieser Stadt, / wo mir niemand nachgesehn, / niemand nachgerufen hat.“
Doch nicht um Einsamkeit und Isolation geht es in dem Gedicht „Bekehrung“! Rückert hat es 1934 auf dem Höhepunkt der Erlanger Schule in seinen „Gesammelten Gedichten“ beim Erlanger Verleger Carl Heyder veröffentlicht. Der weltoffene Poet kritisiert darin die strenge Religionsauslegung und findet in der bissigen Schlusspointe eine klare Bekenntnis zum Leben, abseits der leidenszentrierten Ausrichtung des Christentums – einer Religion, die als „Logo“ das Kreuz erwählt hat, ein Folterinstrument und Todessymbol! Anders gesagt: Es gibt ein Leben vor dem Tod.
Dass Rückert davon in einer Zeit geschrieben hat, als die Macht der Kirche groß und bedeutend war, hat Mut erfordert – und war alles andere als selbstverständlich.
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