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Liebe Freundinnen und Freunde des guten Wortes, liebe Lyrikfans,

herzlich willkommen zu meinem neuen Projekt »Flash Fiction – 33 shortshort Storys«! Heute und in den folgenden 16 Tagen geht es um Kurz- und Kürzestgeschichten bis höchstens 1.000 Wörter. Diese junge literarische Gattung stammt aus dem anglo-amerikanischen Bereich – und steht der Lyrik nahe.

Wer mag, kann die Flash-Fiction-Storys auch als kleine Lesungen genießen – beim Frühstück, während man pendelt, am Feierabend, in der Badewanne … Außerdem suche ich für Ausgabe 22 noch eine Flash-Fiction-Geschichte von Ihnen, die ich mit 50 Euro honorieren werde.

Viel Freude beim Lesen und Hören!
Ihr Matthias Kröner

 

Ohrwürmer

Das riesige Gebäude schüchterte Fabian ein – und gleichzeitig wollte er immer nur eines: dort hinein.
Schon als Jugendlicher hatte er sich geschworen, dass er einmal im obersten Stock mit dem Chef des Plattenlabels sprechen und schließlich bei einem Whiskey einen Major-Vertrag unterzeichnen würde.
Inzwischen waren zwei Jahrzehnte ins Land gegangen, und Fabian war nicht das, was man eine gescheiterte Künstlerexistenz nennen konnte. Er trat auf kleinen und größeren Bühnen auf, in ausgewählten Clubs und manchmal sogar auf Festivals. Wenngleich er im Line-up immer ziemlich weit unten stand, in Fliegenschissgröße auf dem Plakat abgedruckt, auf dem oben die Rolling Stones oder Lady Gaga prangten. Während sie kurz vor Mitternacht eine Bühnenshow mit Pyroeffekten und schwebenden Elementen abfeuerten, musste er nachmittags ran, wenn die verkaterten Besucher aus ihren Zelten krochen und seinen Auftritt wie den ersten Tag im Büro nach einem längeren Urlaub hinnahmen.
Da stand er dann, auf der Bühne, vor vielleicht zweihundert Leuten, die auf dem malträtierten Festivalgelände umherschlurften und sich manchmal zu ihm verirrten. Einige fingen auch an zu tanzen. Doch nur wenige sangen mit.
Fabian ließ sich von diesen Auftritten nicht entmutigen. Er genoss seine Gigs zum Trotz, und das Beste war: Er konnte von seiner Mucke leben. Schon damals, vor zwanzig Jahren, als er bei „Deutschland sucht den Superstar“ einen respektablen vierten Rang ergattert hatte und seine Melodien zeitweilig in vieler Ohren waren.
Da hatte er auch den Begriff geprägt, den er seither mit sich herumtrug und der ihn manchmal zu verfolgen schien: Zukunftsmusik.
Ja, Fabian wollte Zukunftsmusik bauen.
Warum bauen? fragte er sich immer wieder. Weshalb wollte er keine Zukunftsmusik erschaffen oder wenigstens komponieren?

Fabian betrat den großen Glasbau durch die Drehtür. Es waren einige Meter bis zur Rezeption des wuchtigen Foyers, wo eine gut gekleidete, professionell wirkende Mittdreißigerin stand, die ihn schon mehrmals abgewiesen hatte.
Was hatte Fabian alles versucht, um hier hineinzukommen! Er hatte Frontfrauen und -männer kennengelernt, die über ihm auf der Festivalliste standen, Bands, zu denen er nicht musikalisch aufschaute, die aber weitaus bekannter waren; beliebter. Er hatte mit Musikjournalisten gesprochen, mit Veranstaltern, mit Roadies. Zuletzt hatte er sich in den Sozialen Medien ausprobiert, sogar auf TikTok.
Doch da war immer eine geheime Schranke, eine Barriere, die er nicht überschreiten konnte. Als gäbe es ein unsichtbares Land jenseits der Grenze, die er auf Teufel komm raus nicht passieren durfte.
Bis er Tom kennenlernte.

„Sie wünschen?“ Die Frau blickte ihn an wie einen Verwandten, den man schon lange kennt, doch mit dem man einfach nicht warm wird.
„Ich bin mit Ihrem Chef verabredet.“ Fabian verbesserte sich. „Ich weiß gar nicht, ob es Ihr Chef ist.“
Seit nur noch zwei Stockwerke dem einstigen Riesenlabel gehörten und sich Spotify in all den anderen Etagen niedergelassen hatte, war unklar, zu wem die ihm längst schon vertraute Pförtnerin gehörte.
„Das wüsste ich“, antwortete sie. Sie sagte es sachlich, nüchtern.
Fabian hatte schon erlebt, wie hier die Security aufgelaufen und andere Musiker hinauskomplimentiert hatte. Nie brutal, aber bestimmt.
Das würde ihm nicht passieren!
Fabian zog einen unscheinbaren Laptop aus seinem Rucksack.
„Es dauert nicht lange.“
Er fuhr mit dem Zeigefinger über das Touchpad und klickte auf ein Programm.
Was dann geschah, war verblüffend. Zunächst hielt die Fassade der jungen Frau. Dann lächelte sie, und zuletzt wippte sie hinter dem Betontresen zur Musik.
Sie sah Fabian offen an. „Ist das von dir?“
„Jep.“
„Zu Spotify oder zum Label?“
„Spotify.“
Die junge Frau telefonierte und wies ihm den Weg zum Lift.

Fabian sah, wie die Zahlen wuchsen. Der Aufzug gewann kontinuierlich an Höhe.
Tom, dachte er.
Auf einem der Festivals war dieser Typ in den Backstagebereich gekommen.
Er hatte sich Fabian als „Chef der Tontechnik“ vorgestellt, und ihm, ohne lange herumzureden, gesagt, dass er, Fabian, immer knapp am Ohrwurm vorbei komponiere.
Fabian war nicht darauf eingegangen, hatte seine Gitarre eingepackt, sich umgezogen und dann gewundert, dass Tom immer noch in der Garderobe stand.
„Ich bin grad an einer KI dran“, hatte Tom gesagt. „Einer KI, die Ohrwürmer erschafft.“
„Und was habe ich damit zu tun?“
Tom hatte die Achseln gezuckt. „Bisher nimmt mich keiner ernst. Und du siehst so aus, als könntest du einen Karriereschub gebrauchen. Außerdem verstehe ich nicht so viel von Musik. Ich kenne mich nur mit der Technik aus.“
Zwei Jahre lang hatten sie die Künstliche Intelligenz gefüttert. Mit den Number-One-Smash-Hits des Planeten. Es war erstaunlich. Sie wussten nie, was die KI als nächstes ausspucken würde. Doch ein Song war besser als der andere. Nur den Text musste man noch bauen und in die Hooklines und in die ruhigeren Passagen einfügen.
Nach sieben Monaten stimmte alles. Fabian sang zu Liedern, die er nie erschaffen hatte. Von ihm stammten nur die Lyrics.

Er verließ den Fahrstuhl und wunderte sich nicht, wie minimalistisch die Einrichtung war. Whiskey gab es auch nicht. Dafür Espresso.
Fabian fand sich in einem riesigen Büro-Aquarium wieder, in dem mehrere, offenbar wichtige Mitarbeiter saßen – und ihm erst langsam klar wurde, wer hier der Chef war. Ein kleiner Mann, graumeliert, in einem unauffälligen, aber sicher maßgeschneiderten Sakko.
Fabian spielte den vierten, den fünften, den sechsten Song. 
„Und das haben Sie alles allein komponiert?“
Fabian nickte.
Und plötzlich ging es ganz schnell. Der Mann im Sakko, der sich als David vorgestellt hatte, beauftragte seinen Assistenten, der binnen weniger Minuten einen Vertrag ausdruckte und ins Aquarium brachte.
„Sie können gleich unterschreiben! Oder Sie lesen sich alles in Ruhe durch.“
Fabian entschied sich für die zweite Option, nahm den Vertrag, sie verabschiedeten sich überschwänglich, und dann war er wieder im Aufzug, der ihn zahlreiche Stockwerke nach unten brachte. Dorthin, dachte er, wo ich auf der Festivalliste stehe, ganz unten, und wo ich bald nicht mehr stehen werde.
Doch – etwas war seltsam. Alles fühlte sich falsch an, während der Fahrstuhl gemächlich ins 27. und 13. und 7. Stockwerk schwebte.
Er hatte Zukunftsmusik gebaut.
Er hatte sich seinen Traum erfüllt.
Doch es waren nicht seine Klänge. Fabian hatte damit nichts zu schaffen. Nicht einmal Tom hatte etwas damit zu tun.
Es war etwas ganz anderes.

 

 

P.S.: »Flash Fiction – shortshort Storys« wird von Kulturfunke* gefördert – vielen Dank dafür!

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Matthias Kröner - Grüner Weg 44 - 23909 Ratzeburg - Tel.: 0176/32331629