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Liebe Freundinnen und Freunde des guten Wortes, liebe Lyrikfans,

herzlich willkommen zu meinem neuen Projekt »Flash Fiction – 33 shortshort Storys«! Heute und in den folgenden 24 Tagen geht es um Kurz- und Kürzestgeschichten bis höchstens 1.000 Wörter. Diese junge literarische Gattung stammt aus dem anglo-amerikanischen Bereich – und steht der Lyrik nahe.

Wer mag, kann die Flash-Fiction-Storys auch als kleine Lesungen genießen – beim Frühstück, während man pendelt, am Feierabend, in der Badewanne … Außerdem suche ich für Ausgabe 11 und Ausgabe 22 zwei Flash-Fiction-Geschichten von Ihnen, die ich mit 50 Euro honorieren werde.

Viel Freude beim Lesen und Hören!
Ihr Matthias Kröner

 

Der Lotteriegewinner

Raphael sagte den Satz mit Nachdruck. „Das muss aber wirklich unter allen Umständen auf jeden Fall unter uns bleiben.“
Vincent sah glasig in das Gesicht auf der gegenüberliegenden Tischseite. Ein Blick, wie man ihn hat, wenn man nach vier Bieren und drei Schnäpsen noch einigermaßen vertrauensvoll wirken will.
„Logo“, sagte er und bemühte sich nicht zu lallen. „Von mir erfährt keiner was. Ich schweige wie ein Grab. Außerdem“, fügte er rasch hinzu, „sind wir doch Freunde.“
„Also gut, pass auf! Ich hab im Lotto gewonnen.“
„Nee, oder?!“ Vincent setzte die Flasche ab und sich aufrecht hin. „Wie viel?“
„Sechsstellig“, antwortete Raphael.
„Alter, ich dachte, du spielst gar nicht!“ Er nahm einen Schluck und wirkte auf einmal nüchtern. „Du hast mir doch immer vorgerechnet, wie unwahrscheinlich die Quote und wie dämlich man sein muss, wenn man …“
„Jaja“, unterbrach ihn Raphael. „Aber ich wusste nicht mehr weiter. Der Kredit. Sonja. Die monatlichen Kosten für den Kindergarten …“ Raphael räusperte sich. „Aber das sagst du niemand! Ich will keine Schnorrer haben.“
Vincent nickte, trank aus und ging. Manche Dinge muss man erst mal verarbeiten.

Der erste Bettelbrief erreichte Raphael schon am frühen Morgen. Er war handgeschrieben und lag verschüchtert im Briefkasten. Raphael zog ihn heraus und las. Ein alter Klassenkamerad brauchte Geld. Nun gut, damit konnte er wenig anfangen.
Gegen 8 Uhr meldete sich der Kindergarten. Sie, die Haupterzieherin und Verantwortliche für die Finanzen, habe etwas überreagiert. Natürlich kann Neele auch in den nächsten Monaten bleiben. Man wisse ja, dass man sich auf Raphael stets verlassen könne. Bei Selbstständigen liefe der Geldfluss eben manchmal anders. Sie jedenfalls habe vollstes Verständnis.
Gegen 9 Uhr meldete sich sein Chef. Ob Raphael nicht doch von der Klage absähe. Die Kündigung, ach, das sei nicht so ernst gemeint. Er, der Chef, habe sich eben geärgert. Ob man wieder zusammenkomme? Raphael stimmte zu. Die Bezüge gäbe es natürlich rückwirkend.
Gegen 10 Uhr meldete sich die Bank. Der Berater gab sich zerknirscht. Er sei untröstlich. Ein Fehler im System. Ein Rechenfehler, der ihm unterlaufen sei. Selbstverständlich könne man den Kredit für sechs Monate aussetzen. Er wisse ja, fügte der Bankberater hinzu, man könne Raphael Grünfärber vertrauen.
Gegen 11 Uhr meldete sich Sonja. Wie es denn dazu käme, dass sie bei ihm anrufe, wollte Raphael wissen.
„Ach, weißt du, mit Patrick ist auch nicht alles Gold, was glänzt.“
„Aber mit mir schon?“, fragte Raphael vorsichtig nach.
„Du, was man so hört …“
„Was hört man denn?“
Sonja druckste herum und versprach noch heute bei ihm vorbeizuschauen. Wenn er wolle, gleich in der nächsten Stunde.
Gegen 12 Uhr erschien Sonja. Sie hatte sich hübsch gemacht und setzte sich in ihr gemeinsames Haus an den Küchentisch.
„Wo ist Neele?“ fragte Raphael.
„Wo soll sie schon sein? Im Kindergarten.“
„Gut.“ Raphael lächelte und sah Sonja an. Sonja zögerte. „Also, ich hab da was gehört …“
Er setzte sich ihr gegenüber hin, biss sich kurz auf die Lippen und begann. „Pass auf, das muss aber wirklich unter allen Umständen auf jeden Fall unter uns bleiben! Ich hab mich gestern mit Vincent getroffen. Wir haben Biere getrunken und Schnaps …“
Raphael erzählte. Dann schwieg er. Sonja hörte zu und legte die Stirn in Falten.
Wenn du jetzt nicht gehst, dachte er. Wenn du morgen noch da bist und übermorgen und nächste Woche …
Dann lachte sie. Sie lachte, wie sie schon lange nicht mehr gelacht hatte.
Auf meine Frau, dachte er und fiel in ihr Lachen ein, kann ich mich wieder verlassen. Alles andere wird sich in den nächsten Monaten schon wieder einrenken.

 

 

P.S.: »Flash Fiction – shortshort Storys« wird von Kulturfunke* gefördert – vielen Dank dafür!

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Matthias Kröner - Grüner Weg 44 - 23909 Ratzeburg - Tel.: 0176/32331629