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Liebe Freundinnen und Freunde des guten Wortes, liebe Lyrikfans,

herzlich willkommen zu meinem neuen Projekt »Flash Fiction – 33 shortshort Storys«! Heute und in den folgenden drei Tagen geht es um Kurz- und Kürzestgeschichten bis höchstens 1.000 Wörter. Diese junge literarische Gattung stammt aus dem anglo-amerikanischen Bereich – und steht der Lyrik nahe.

Wer mag, kann die Flash-Fiction-Storys auch als kleine Lesungen genießen – beim Frühstück, während man pendelt, am Feierabend, in der Badewanne …

Viel Freude beim Lesen und Hören!
Ihr Matthias Kröner

 

Doppelt abgeschlossen

„Irgendwann“, sagte die alte Frau und lachte, „werden sie dir deine Wohnung klauen! Du wirst sehen, sie werden sie mitnehmen und nicht zurückgeben.“
„Wer wird sie mitnehmen? Weißt du das auch genau?“
„Keine Ahnung“, entgegnete die Nachbarin und amüsierte sich wieder einmal darüber, dass er seit einigen Wochen immer zweimal abschloss, „wahrscheinlich Außerirdische.“ Er wusste selbst nicht, weshalb er den Schlüssel jedes Mal bis zum Anschlag drehte. Er tat es, drehte ihn eine Viertelumdrehung zurück und verließ das Haus.
Die Straßen der kleinen Stadt waren an diesen Vormittagen nahezu nicht befahren. Er betrat den Bürgersteig und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Klickklack machten seine Schuhe, die viel zu sauber waren für einen Besuch im Supermarkt. Doch wenigstens besiegten sie den Bürgersteig, der seit einigen Wochen schwankte, und gaben seinen Beinen die alte Kraft zurück. Er dachte: Merkwürdig, dass wir so abhängig von unserer Arbeit sind, dass wir uns immer nach diesem Zustand sehnen, in dem ich mich jetzt befinde, und dann ist plötzlich nur alles leer und komisch.
Während er in den Himmel starrte, in dem sich Septemberwolken versammelt hatten, sagte er sich die einzelnen Posten des Einkaufszettels zum wiederholten Male von vorne auf. Er benötigte einen halben Bauernlaib, Käse, einige Flaschen Bier, Marmelade, aber vor allem Kaffee. Wenn er Kaffee trank, ging es ihm deutlich besser. In den letzten Wochen war sein genau austariertes Gedankengebäude brüchig geworden, und es bestand die Möglichkeit, dass es durch die leiseste Unvorhergesehenheit unerwartet in sich zusammenfiel. Auch sein Gefühlshaushalt, den er immer in Ordnung gehalten hatte, war alles andere als aufgeräumt – egal wie viele Staublappen er verschwendete und wie viele Flaschen Bergfrühling dabei draufgingen.
Er fuhr durch die Reihen des Einkaufszentrums, legte die Waren in einen Wagen und stellte sie dann aufs Förderband, um den anderen Kunden, die an nichts außer ihre Einkäufe dachten, wie ein Tierparkelefant dem anderen nachzutrotten. Sehr alte Damen mit Buggys und einige stadtbekannte Alkoholiker besuchten um diese Uhrzeit das Einkaufszentrum. Er dachte an seine Nachbarin und daran, dass sie ebenfalls seit einigen Wochen in Rente war – und seine Frau seit über zwei Jahren tot. Er dachte: Die Arbeit hat mir darüber hinweggeholfen, und er dachte an seine Großeltern und wie sie mit dem letzten Arbeitstag tatsächlich alt geworden waren und wirklich beschlossen hatten, nie wieder Rad zu fahren, nicht mehr zu schwimmen, keine Urlaube mehr zu machen, weil sie doch nichts mehr leisteten und deshalb keine Erholung brauchten. Und er erschrak, als er sich daran erinnerte, dass sie immer das Schloss ihrer Wohnungstür zweimal absperrten.
Nachdem er die Waren in zwei Tüten gepackt hatte, machte er sich auf den Weg nach Hause. Obwohl es kälter geworden war, nahm er einen Umweg durch den Stadtpark. Hier saßen alte Herren auf alten Bänken. Sie sahen nicht sehnsüchtig aus, sie sahen eher danach aus, dass sie nicht mehr wussten, was eine Sehnsucht ist. Er lief schneller und war sich sicher, dass er niemals Enten füttern würde, er würde auch weniger Bier trinken ab sofort, er würde Ausflüge mit dem Fahrrad machen, an heißen Tagen ins Freibad gehen, jedes Jahr in den Urlaub fahren und notfalls seine Wohnungstür zweimal abschließen. Als sich die Sätze in seinem Kopf ausbreiteten, stand er schon wieder im Treppenhaus und kramte nach seinem Schlüssel. Er öffnete die Türe und taumelte erschrocken rückwärts.
Dort, wo seine Wohnung gewesen war, da war nichts. Er starrte geradewegs in den Himmel und auf die Straße, die an diesem Morgen zwischen zehn und elf nahezu unbefahren war, und er sah die Wände der Wohnungen neben und unter und über sich und er dachte: Wie wenn ein Raumschiff gekommen wäre, um mit einem Greifarm meine Wohnung wie einen Legostein aus dem Haus zu ziehen.
Er warf die Türe zu und klingelte bei der Nachbarin. „Du hattest recht“, sagte er, „Außerirdische haben mich beklaut. Sie haben mir meine Wohnung gestohlen. Komm rüber und überzeug dich selbst!“

 

 

P.S.: »Flash Fiction – shortshort Storys« wird von Kulturfunke* gefördert – vielen Dank dafür!

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Matthias Kröner - Grüner Weg 44 - 23909 Ratzeburg - Tel.: 0176/32331629