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Liebe Freundinnen und Freunde des guten Wortes,
liebe Lyrikfans,

gestern hat mir die Geschäftsführerin der Rückert-Gesellschaft, Andrea Mayer, einen original "Rückert Espresso" zugesandt – vielen Dank, ich habe mich sehr gefreut! Dazu folgender Text: "Auch wenn Sie im 'Hohen Norden' leben, hoffe ich, dass Sie nicht zu sehr 'Theist', sondern auch ein wenig 'Kaffeist" sind ..." Und ob ich das bin! Ich werde mir den schwarzen Muntermacher bei der nächsten Interpretation ganz besonders schmecken lassen.

Was war noch? Ich habe es mir beim Versmaß des "Fliegen"-Gedichts etwas zu leicht gemacht. Bernhard Forssman, Professor im Ruhestand für Vergleichende Indogermanische Sprachwissenschaft, schrieb mir: "Wenn man das 10. Gedicht von Friedrich Rückert laut liest, hört man, dass es nicht in freien Rhythmen abgefasst ist. Jede Zeile hat die gleiche Silbenzahl, und die betonten Silben befinden sich an den gleichen Stellen der Zeile. Es ist ein antikes – also griechisches und römisches – Versmaß namens Hipponakteus. Als solches wurde es von Rückert nicht gereimt; in der klassischen Antike spielte der Reim keine Rolle, und an diese Regel fühlte Rückert sich selbstverständlich gebunden."
Ich gestehe, in diesen Dingen (Versmaß und Co.) bin ich trotz eines abgeschlossenen Literaturstudiums nie richtig gut gewesen. Irgendwann erfuhr ich, dass nicht alle Menschen die Hebungen und Senkungen, die betonten und unbetonten Silben ganz genau hören können. Ich hatte mich schon immer im Verdacht, zu dieser Spezies zu gehören!

Sehr schön dann noch die Nachricht zum Unglücksgedicht (Folge 9) von Silke Borchardt: "Wer hätte gedacht, dass Rückert es so faustdick hinter den Ohren hat und so ein Spaßvogel ist? Ich ganz sicher nicht! Was für eine wunderbare, frühe 'Anleitung zum Unglücklichsein'. Da sieht man mal, auf wessen Schultern Paul Watzlawick gestanden hat :-)"

Folgende Geschichte zur kleinen Fliege soll den Vorspann heute abrunden: "Das Gedicht von der kleinen Fliege sagt uns, dass wir öfter auf Kleinigkeiten achten sollten, es könnte Schönheit darin versteckt sein. Die Worte Rückerts haben mich berührt und an eine Geschichte erinnert. Im Jahre 1949 hatten wir oft Hunger. Meine Mutter aber konnte aus einem Hering und ein paar Kartoffeln ein gutes Essen bereiten. Eines Tages gab sie mir zwei Mark mit der Bitte, einen Hering zu kaufen. Auf dem Markt entdeckte ich eine Frau, die kleine wunderschöne Blumen verkaufte. Ich vergaß den Hering und kaufte diese kleinen Blumen für meine Mutter, sie sollte endlich wieder mal ein schönes Geschenk bekommen. Zuhause angekommen, holte meine Mutter tief Luft, um zu schimpfen, da sagte mein Vater liebevoll: 'Nun setzen wir uns alle an den Tisch und freuen uns über die wunderschönen Maiglöckchen.'"

Ein sehr kluger Vorschlag des Vaters, zumal wir uns heute einem schwierigen Thema zuwenden: der unerfüllten Liebe …

Herzliche Grüße,
Matthias Kröner

 

Amaryllis, ein Sommer auf dem Lande
21. Sonett

Amara, bittre, was du tust, ist bitter,
wie du die Füße rührst, die Arme lenkest,
wie du die Augen hebst, wie du sie senkest,
die Lippen auftust oder zu, ist’s bitter.

Ein jeder Gruß ist, den du schenkest, bitter,
bitter ein jeder Kuß, den du nicht schenkest;
bitter ist, was du sprichst und was du denkest,
und was du hast und was du bist, ist bitter.

Voraus kommt eine Bitterkeit gegangen,
zwo Bitterkeiten gehn dir zu den Seiten,
und eine folgt den Spuren deiner Füße.

O du mit Bitterkeiten rings umfangen,
wer dächte, daß mit all den Bitterkeiten
du doch mir bist im innern Kern so süße!

 

Kurz eingeordnet

Wer kennt es nicht – das Gefühl abgewiesener Liebe?! So erging es Friedrich Rückert natürlich auch. Im Sommer 1812 verliebt er sich unglücklich im unterfränkischen Eyrichshof, genauer: im Wirtshaus „Auf der Specke“, in die Tochter des Gasthofbesitzers, in Maria Elisabeth Geuß. Seinem Freund Christian Stockmar schreibt er im Juni: „Meine Bittre quält mich bis in den Tod; sie ist ein Satan, und ich ein Narr, weil sie nicht einmal ein schöner ist.“
Ihre Ablehnung mag Friedrich besonders getroffen haben, weil kurz zuvor die von ihm verehrte Agnes Müller (1796–1812), Tochter eines Justizamtmannes und wahrscheinlich Rückerts erste Freundin, an den Folgen eines „Blutsturzes“ gestorben war (= eine Verlegenheitsdiagnose im 19. Jahrhundert und früher, wenn ein tödlicher Krankheitsverlauf nicht gänzlich geklärt werden konnte). Der 24-jährige Jungschriftsteller stürzte sich in eine neue Liebe – und in die Poesie.
Der ewige Rückert-Experte Rudolf Kreutner sieht darin eine „Selbsttherapie gegen Liebesleid“, benennt aber auch das Gemachte dieser Verse, das Ausgefeilte, das „dichterische Programm“. Einfacher ausgedrückt: Die eigene Biografie ist immer der Urgrund des eigenen Schreibens (und tritt sie noch so verschlüsselt auf!). Doch dann entsteht etwas Neues, Größeres, das nur noch bedingt mit des Dichters echten Gefühlen zu tun hat; Kunst eben.
Der monomanisch Verse schmiedende Rückert schreibt sogar einen kompletten Sonettenkranz (70 Gedichte werden es!) über seine Frustration. Wie gut gebaut diese Sonette sind, zeigt sich bereits am Titel: „Amaryllis“ spielt nicht nur mit dem Spitznamen von Frau Geuß („Marielies“), sondern auch mit der Nymphe Amaryllis des längst verstorbenen griechischen Dichters Theokrit (um 270 v. Chr.), die in dessen „Idyllen“ einen Hirten abweist … Und: Beim Ritterstern, einem Amaryllisgewächs, sind tatsächlich alle Pflanzenteile giftig, oder wie es auf „Plantopedia“ heißt: „Die Symptome belaufen sich auf Herzrasen, Schwindel, Schweißausbrüche in starkem Ausmaß und Erbrechen. Werden die Blätter und Blüten berührt, kommt es zu Hautreizungen.“
Schwer beeindruckt ist auch der Lyriker Hans Magnus Enzensberger (1929–2022), der das Sonett in seine Übertragung von Molières „Menschenfeind“ hineinschmuggelt und in „Das Wasserzeichen der Poesie oder die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen“ (1985) einbaut. Er – und zeitgenössische Bewunderer – mochten besonders das Volkstümliche dieser (Auto-)Fiktion: keine Fürstentochter wird besungen, sondern eine „einfache“ Landfrau.
Apropos: Was wird aus Maria Elisabeth Geuß? Sie heiratet 1816 den Coburger Koch, Gastwirt und fahnenflüchtigen Soldaten Jacob Eckard – doch auch Friedrich Rückert wird die Liebe finden. Dazu morgen mehr!

 

 

 

 

P.S. Das Rückert-Projekt wird von der Stadt Schweinfurt, der Rückert-Gesellschaft e. V. und der Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten e. V. gefördert. Vielen Dank dafür – ohne diese Unterstützung wäre das Projekt nicht möglich!

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