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Liebe Freundinnen und Freunde des guten Wortes, liebe Lyrikfans,

das neue Jahr beginnt – und es beginnt gleich spannend. Denn: »Der Billabongkönig« ist jetzt ein Hörspiel und wird im Laufe des Jahres beim Hessischen Rundfunk, beim Rundfunk Berlin-Brandenburg und bei Deutschlandfunk Kultur laufen.
Schon jetzt schwimmt der Krokodilskönig mit den Zahnschmerzen durch die ARD Audiothek und kann jederzeit abgespielt werden!
Wer ein signiertes Buchexemplar möchte – fünf Ausgaben stehen hier noch im Regal … Man kann natürlich auch via Autorenweltshop bestellen.

Außerdem durfte ich für den BR (Bayerischer Rundfunk) eine Geschichte schreiben. Das Thema lautete »Von Null auf Hundert« – was schreibt man da?
Ich dachte darüber nach und kam darauf, dass mich seit jeher der 100-Meter-Lauf fasziniert. Die vielleicht spannendste, intensivste, schnellste Auseinandersetzung des Menschen gegen die Zeit.
Ich recherchierte und stieß auf Armin Hary. Wer bitte ist das? Sehen Sie
unten!
Anhören kann man sich die Geschichte auch als Podcast (ab Minute 4:30).

Ich wünsche Ihnen und Euch große und kleine Momente des Glücks und eine gute Abfederung, wenn mal was schiefgeht. Will sagen: gutes Durchstarten in den noch jungen zwölf Monaten!

Matthias Kröner

Ein Brief an Usain Bolt

Manchmal brauchte er es, in den Zug zu steigen und einfach loszufahren.
Wie immer erkannte ihn niemand. Weder die Zugbegleiterin, die sich leicht herabbeugte – als wäre er schwerhörig. Noch der Mann vom Service, der ihm einen Kaffee über die kleine Zugküchentheke reichte …
Er nippte daran und sah aus dem Fenster, während die Landschaft an ihm vorbeiraste.
Wenn er nachts nicht schlafen konnte, dachte er immer wieder darüber nach, Usain Bolt einen Brief zu schreiben.
Ich war der Erste, der die 100 Meter in 10 Sekunden lief.
Ob es Bolt interessieren würde? Ob er weiß, dass Rekorde auf der Tartanbahn leichter zu schaffen sind? Man pfeilt und man fliegt – während ich die Aschenbahn fast zum Feind hatte … Zum Glück, dachte er und erkannte spät, dass er bereits durch Franken fuhr. Zum Glück hatte ich die Schuhe der Dassler-Brüder!
Mit Adidas lief ich Weltrekord. Mit Puma holte ich das olympische Gold.

Er schüttelte den Kopf, weil das alles schon so lange her war.
Der Zug hielt. Menschen stiegen ein und aus. Sie entschuldigten sich, wenn sie sein Bein mit dem Koffer streiften.
Koffer, dachte er und lachte in sich hinein. Damals, in den ausklingenden 50er-Jahren, hätte ich einen internationalen Kofferhandel aufmachen können. Wir bekamen Koffer für unsere Siege. Pokale und Koffer.
Auch so eine Sache, die Usain Bolt wissen muss!

Profis waren noch nicht erfunden. Zumindest in Deutschland nicht. Als Sportler war man ein Amateur – basta!
Die Funktionäre blieben die großen Macker. Bei der Europameisterschaft 1958 in Stockholm, bei der ich Gold geholt habe, gab es schwere Vorwürfe, weil ich nachts um elf Uhr statt um zehn ins Sportheim kam. In Wirklichkeit waren sie neidisch. Darauf, dass ich eine Freundin hatte. Eine Schwedin.

Eine schwarzhaarige Frau setzte sich ihm gegenüber. Sie zog ihr Handy hervor und wischte.
Was hätte ich zehn Jahre später oder zwanzig oder heute bewegen können? Meine Rennen würden durchs Netz fliegen, durch die Sozialen Medien.
Ein Star durfte man nur in Amerika sein.

Cassius Clay fiel ihm ein. Der stellte sich hin und sagte: „Es ist schwer, bescheiden zu sein, wenn man so großartig ist wie ich.“
Meine Güte! Wir wagten es nicht einmal, so zu denken …
Er sah auf die Armbanduhr. Es war gut, unterwegs zu sein. Es war gut, die Gedanken ziehen zu lassen.
In Friedrichshafen knackte ich die Rekordmarke zum ersten Mal. Das war ebenfalls ‘58. Ich war ausgelassen und aus dem Häuschen.
Die Schiedsrichter glaubten den Stoppuhren nicht. Die Bahn musste neu vermessen werden!
Sie fanden heraus, dass meine Bahn, meine Laufbahn, einen Zentimeter zu viel Gefälle hatte. Tatsache, dass hatte sie … Und ich hatte schlaflose Nächte, weil sie den Rekord nicht anerkannten.
Den Weltrekord, hinter dem ich her war.

Der Zug holperte. Bremste. Bremste schärfer. Es drückte ihn gegen den kleinen Tisch.
Das zweite Mal versuchte ich es zwei Jahre später in Zürich. Die Funktionäre wollten nicht, dass ich startete. Ich solle mich schonen für Olympia. Im letzten Moment bekam ich doch grünes Licht, nahm eine Frachtmaschine, weil die Personenflieger längst ausgebucht waren, haute mich eine Stunde aufs Ohr und lief wenig später die 10,0.
Die entschuldigende Ansage des Zugführers. Ein entgegenkommender ICE … Man müsse kurz warten … Wir setzen bald unsere Reise fort …
Diesmal stoppten drei Zeitabnehmer die zehn Sekunden. Einer sogar – 9,8! Das musste ein Fehlstart sein. Das durfte, das konnte nicht sein. Ich pochte aufs Regelwerk. Man gewährte mir großzügig eine Wiederholung …
Sie standen immer noch. Der entgegenkommende Zug ließ sich Zeit.
Ich weiß noch, wie ich meinen selbst gebauten Startblock auf die Aschenbahn nagelte. Bei jedem Hammerschlag dachte ich an meinen Vater, einen Bergarbeiter im Saarland. Es war, als nagelte ich mich auf die Erde. Meine Spikes bohrten sich in den Grund. Ich wollte der Armut entkommen. Ich wollte den Aufstieg schaffen.
Der ICE rauschte an ihnen vorüber.
Wieder – 10,0! Diesmal nahm sie mir keiner weg.

Der Zug fuhr an. Ruckelte. Holperte, als würden Steine auf den Schienen liegen.
Auch zwischen mir und dem Verband holperte es. Einmal sprach ich es offen aus: „Nicht die Athleten sind für die Funktionäre da. Sondern die Funktionäre für die Athleten.“
Dieses Interview haben sie mir nie verziehen. Deshalb nahmen sie mich wegen einer falschen Spesenabrechnung hoch. Ich fuhr mit dem Zug – wie jetzt. Doch rechnete die Kilometerpauschale ab.

Es ging um 70 Deutsche Mark, umgerechnet 186 Euro.
Der ICE nahm Geschwindigkeit auf.
Er zog ein Notizbuch hervor. Das muss ich unbedingt Usain Bolt schreiben! Er wird sich kaputtlachen.
Kurz darauf lachte er selbst. Die Schwarzhaarige sah ihn irritiert an.
Ob ich Bolt auch von Rom erzähle? Wie sie uns 1960 einige Tage vor den olympischen Wettkämpfen einquartierten, mit Metallbetten, die durchgelegen waren und quietschten?
Die Repräsentanten und Sportbeauftragten hatten es sich in ihren Zimmern mit stabilen Holzbetten und einem Kühlschrank bequem gemacht.
Ich räumte kurzerhand die Betten um. Meine Laufkollegen waren begeistert. Dann holte ich zweimal Gold, im Einzel und in der Staffel. Die Medaille überreichte mir ein gewisser Karl Ritter von Halt, der bei Hitlers „Friedensspielen“ von 1936 dafür sorgte, dass eine jüdische Top-Athletin ausgeladen wurde. Zu sicher wäre ihr Sieg gewesen.
Der Zug fuhr jetzt langsamer. Fuhr konstant hundert. Die Strecke war kurvenreich.
Danach sperrten sie mich für Monate. Erneut wegen Spesen. Ein Auto auf dem Berliner Kurfürstendamm fuhr mich an, weshalb ich starke Knieprobleme bekam. Selbst die Presse war gegen mich. Das Enfant terrible. Der James Dean der Leichtathletik.
Ein Jahr nach den Olympischen Spielen trat ich zurück.

Er sah aus dem Fenster. Es ging durch Tunnel. Durch Wälder.
Er dachte: Deiner Zeit voraus kannst du nur im Rückblick sein. Im Jetzt der Gegenwart begreift es keiner, da feinden dich alle an.
Endlich verließen sie die unwirtliche Strecke.
Er spähte mehrere Minuten lang über Felder. Es war gut, in den Horizont zu blicken. Die Schwarzhaarige machte sich bereit für den Ausstieg.
Er dachte an seinen Brief.
Immer wieder hatte er ihn vor sich hergeschoben. Jetzt griff er nach einem Stift, schlug das Notizbuch auf – und fing an.

Wer mag, kann jederzeit auf meiner Webseite stöbern. Man findet Leseproben, Bücher, Links zu neuen Projekten – und kann mich auch für Lesungen buchen. Siehe www.fairgefischt.de!

Matthias Kröner - Grüner Weg 44 - 23909 Ratzeburg - Tel.: 0176/32331629