Rückert, heute!
33 Rückert-Gedichte per Newsletter
Da war plötzlich diese Nachricht. „Die Stadt Schweinfurt möchte den Dichter und Orientalisten Friedrich Rückert wieder mehr in das Bewusstsein der Öffentlichkeit rücken. Können Sie sich vorstellen, sein Wirken und Nachwirken einem breiten Publikum nahezubringen – gerne auch populär?“
Die Zeitmaschine
Die Mail erreichte mich während eines vierwöchigen Ferienaufenthalts an der Mecklenburgischen Seenplatte, und ich dachte direkt: Rückert – ernsthaft? Kann ich nicht bitte etwas zu Charles Bukowski, Gottfried Benn oder Marie Luise Kaschnitz machen?
Natürlich kannte ich Friedrich Rückert. Als einstiger Literaturstudent in Erlangen kommt man um den Professor für Orientalistik gar nicht herum. Doch anders als Platen („Wer die Schönheit angeschaut mit Augen“), Jean Paul (dieser Wortwitz!) oder E.T.A. Hoffmann (so schön düster!) konnte mich Rückert nicht richtig fesseln. Seine Liebesgedichte sind arg abgelauscht bei Goethe, nicht wenige seiner mehr als 20.000 Gedichte (es gibt noch mehr im immer noch nicht komplett ausgewerteten Nachlass) klingen ein bisschen kalenderspruchhaft und seine kämpferischen Verse gegen Napoleon sprechen wie aus einer anderen Welt zu uns.
Trotzdem – oder gerade deswegen! Die Idee interessierte mich! Warum kennt man Rückert eigentlich noch? Wieso ist er in all den wichtigen Anthologien vertreten: vom „Großen Conrady“ über Robert Gernhardts „Hell und Schnell“ bis zu Reich-Ranickis „Kanon“? Ich erinnerte mich, dass ich in einem kommentierten Lyrik-Taschenkalender auf ein „Kindertodtenlied“ von ihm gestoßen bin, das mich tief erschüttert hat. „Oft denk‘ ich, sie sind nur ausgegangen, / Bald werden sie wieder nach Haus gelangen, / Der Tag ist schön, o sei nicht bang, / Sie machen nur einen weitern Gang.“ So lautet die erste Strophe, die ich – jetzt! – an einem verlassenen Waldsee in Mecklenburg-Nirgendwo googelte. Wieder traf es mich! Das klang überzeitlich, als hätte der Text von 1834 eine Zeitmaschine bestiegen, als schwebte er über dem Raum … Da schrieb einer über das traurigste Ereignis, das einem Menschen widerfahren kann: die eigenen Kinder zu überleben. Er tat es auf die genau richtige Weise.
Ich wollte mehr über Rückert wissen. Ich wollte mehr von ihm lesen! Doch vor allem wollte ich dieses und andere Gedichte des Sprachgenies (Rückert beschäftigte sich mit mehr als 40 Sprachen!) und kongenialen Übersetzers aus dem arabischen Raum einer größeren Menge an Menschen zugänglich machen.
Rückert, digital
Das konnte nicht über eine bloße Veranstaltung laufen. Das musste anders gehen, digital! Während der Coronazeit hatte ich die Idee zu einer Lyrischen Post. Einem Newsletter, der an 100 aufeinander folgenden Tagen ein Gedicht in die Welt schickt. Die Resonanz war gewaltig. Es gab mehr als 1.200 Rückmeldungen. Seither habe ich 55 Kindergedichte verschickt, einen Mundart-Monat (fränkisch!) veranstaltet, 33 Flash-Fiction-Geschichten versandt, eine Straße der Poesie organisiert; sogar Anke Engelke und Kristian Thees wurden auf den Newsletter aufmerksam und sprachen in ihrem Podcast davon.
Also antwortete ich, nachdem ich den Waldsee durchschwommen hatte, auf die Anfrage: „Wie wäre es, wenn ich 33 Rückert-Gedichte in die Welt schicke und pointiert kommentiere? Nach dem Motto ‚Was hat uns Rückert heute noch zu sagen?‘“
Gedacht, gemacht! Und morgen geht es dann richtig los, mit Tag 1 und Gedicht 1!