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Liebe Freundinnen und Freunde des guten Wortes, liebe Lyrikfans,

herzlich willkommen zu meinem neuen Projekt »Flash Fiction – 33 shortshort Storys«! Heute und in den folgenden 21 Tagen geht es um Kurz- und Kürzestgeschichten bis höchstens 1.000 Wörter. Diese junge literarische Gattung stammt aus dem anglo-amerikanischen Bereich – und steht der Lyrik nahe.

Wer mag, kann die Flash-Fiction-Storys auch als kleine Lesungen genießen – beim Frühstück, während man pendelt, am Feierabend, in der Badewanne … Außerdem suche ich für Ausgabe 22 noch eine Flash-Fiction-Geschichten von Ihnen, die ich mit 50 Euro honorieren werde.

Viel Freude beim Lesen und Hören!
Ihr Matthias Kröner

P.S. Ich habe mich sehr gefreut, dass in NDR Kultur ein sehr schöner Vier-Minuten-Beitrag von Linda Ebener zur Flash Fiction erschienen ist, Titel: »Ausdruck auf engstem Raum«.

 

Ganz oben

Wann immer Steinhauser vom Hauptbahnhof zu den riesigen Bürotürmen lief, durchquerte er ein kleines Viertel, in dem Gemüsehändler, Obdachlose und illegale Einwanderer lebten. Steinhauser fiel mit seinem sündhaft teuren Anzug auf, aber auch den Designerschuhen, die mehr gekostet hatten, als einer der Handy- und Drogenverkäufer, die ihn manchmal ansprachen, in einem Monat klarmachte. Steinhauser gefiel es, aufzufallen.
Manchmal meinte er sogar, einige Zentimeter über den Sträßchen zu schweben. Angst hatte er seltsamerweise nie. Selbst diejenigen, die schon am frühen Morgen vor ihren Läden saßen, an einer Shisha zogen oder einen ersten Espresso nahmen, versuchten ihm allenfalls etwas anzudrehen. Eine echte Auseinandersetzung hatte er nie gehabt.
Mein Status schützt mich, dachte Steinhauser und richtete seinen Blick auf die Türme, die hinter dem Elendsquartier emporstiegen. Ich würde mich gerne bei den Architekten dafür bedanken. Er stieg vorsichtig über einige Verwahrloste, die mit ihren gebrauchten Schlafsäcken den Gehsteig fast für sich einnahmen. Allein das Aussehen der Hochhäuser, dachte er, verleiht mir Sicherheit und bringt Ordnung in eine Welt, die aus Chaos aufgebaut ist – als er stolperte … Steinhauser fiel über einen nachlässig geöffneten Geigenkoffer, fing sich ungeschickt mit den Händen und schürfte sich die linke Stirnseite auf den Steinplatten auf.
Von da unten sah er die rote Polsterung des Koffers, in dem einige CDs, aber keine Münzen lagen. Davor stand ein Schild aus Pappe, das er mühsam entzifferte: „Wer nichts ist und nichts hat, dem geht es meistens besser.“
Der Mann hinter dem Koffer sah ihn an. „Sie bluten“, sagte er und stellte die Geige an die Wand eines Tabakladens.
„Lassen Sie nur, es ist alles …!“
Der Geigenspieler zog ein Pflaster aus seinem Rucksack. Zunächst wehrte Steinhauser ab. Dann setzte er sich auf die Steinplatten. Es war nicht unangenehm, sich von dem Mann verarzten zu lassen. Du bist älter als ich, dachte er, mindestens fünfzehn, vielleicht sogar zwanzig Jahre. Seine Haare waren leicht kraus und weiß, und es lag etwas in den Falten dieses Gesichts und im Ausdruck der Augen, das Steinhauser vollkommen ruhig machte. Selbst den Riss in der Anzughose vergaß er.
„Darf ich Ihnen … eine CD abkaufen?“
„Sie wissen doch gar nicht, was ich spiele.“ Nach einer kurzen Pause setzte der Mann hinzu. „Sie wissen aber schon, dass Sie täglich an mir vorbeilaufen.“
Steinhauser stutzte. Er erinnerte sich an verirrt wirkende Töne, die dahin und dorthin schwirrten und die ihn, jetzt, wenn er genauer darüber nachdachte, an etwas erinnerten, das er nicht haben wollte. Es lag kein Wohlklang in ihnen, weswegen er über den Geigenkoffer gestolpert war.
„Wenn Sie wirklich überzeugt sind davon, verkaufe ich Ihnen etwas. Sonst nicht.“
Steinhauser hätte am liebsten verächtlich aufgeseufzt, wie er es manchmal in Meetings tat, in denen nichts vorwärtsging und sich die jungen Betriebswirte, gerade frisch von der Uni, ein wenig zu selbstsicher gaben. Doch er hielt sich zurück. Der Mann hatte ihm geholfen, und wenn er ehrlich war, tat die Wunde auch nicht mehr weh.
„Darf ich Ihnen dann wenigstens für das Pflaster …?“ Steinhauser griff nach seiner Brieftasche.
Der Musiker machte eine abwehrende Geste. „Ich bitte Sie! Wollen Sie mich beleidigen?“
Steinhauser nickte dem Geiger zu, der das Instrument wie einen Rohrzange packte und aus den Seiten die Melodien zupfte, die ihn auf eine seltsame Weise angriffen. Es waren keine Harmonien, die sein Trommelfell streiften. Er hörte Dissonanzen, die manchmal zusammenfanden. Fast wäre er umgedreht, um die CD doch zu kaufen. Doch seine Füße trieben ihn an zur Flucht.
Steinhauser merkte gerade noch, wie er die gläserne Drehtür seines Büroturms streifte. Den Pförtner grüßte er mechanisch. Er betrat den Aufzug. Die Kabine stieg von einer Etage zur nächsten. So schnell, dass man die Zahlen, die sich grellrot auf dem Display zeigten, fast nicht entziffern konnte.
Im 56. Stock stieg er aus. 200 Meter über der Wirklichkeit sah die Welt anders. Auch die Menschen benahmen sich hier oben anders.
Er lief an der Assistentin vorbei, die sich wegen seiner Schramme besorgt zeigte, doch sofort aufhörte, danach zu fragen, als er abwinkte. Er schloss die Tür hinter sich und sah aus den riesigen Glasfenstern in die Stadt. Menschen irrten da unten herum. Radfahrer. Autos. Trams. Zwei Flugzeuge querten den Himmel über ihn.
Hier wollte ich immer hin, dachte er.
Alles fühlte sich verquer und verkehrt an. Sogar sein Schreibtisch, der ihm das Gefühl verlieh, die Welt unter Kontrolle zu haben.
Steinhauser lief erneut an der Assistentin vorbei – diesmal schneller, als er es vorhatte. Während der Aufzug nach unten fuhr, fielen ihm wieder die Klänge ein, die er von seinem Opa kannte. Der hatte in der kriegszerstörten Stadt vor den Schuttbergen auf einer Geige gespielt. Schräg hatte das geklungen, und Steinhauser wusste noch, wie er als kleiner Bub nachgefragt hatte.
„Schau, Moritz!“, hatte sein Opa geantwortet und ihn auf den Arm genommen. „Soll ich jetzt Mozart spielen? Schau dir die Welt doch an!“
Die Welt ist unten geblieben, dachte Steinhauser. Dort, wohin ich jetzt zurückgehe.
Er erinnerte sich an die Video-Konferenz, die in zwanzig Minuten anstand. Es ging um die Fusion zweier weltweit agierender Banken. Wenn ich da fehle, kündigen sie mich. Fast wünschte er sich, dass er seinen Schritt bereute. Doch da war nur ein leerer Abgrund und ein Fahrstuhl, der abrupt stoppte.
Steinhauser rannte zum Tabakladen. Der Musiker und der Geigenkoffer waren verschwunden. Kurz blickte er auf die Bürotürme. Sie wirkten rissig und unwirklich. Dann stolperte er in den Laden. „Der Mann“, sagte er außer Atem. „Der Mann, der da saß und spielte. Wo ist er?“
Der Tabakverkäufer nickte. „Ich soll Ihnen das da geben.“
„Mir?“
Der sehr dürre ältere Herr reichte ihm eine CD. Steinhauser zahlte mit einem Hundert-Euro-Schein. Der Mann stutzte, dann schmunzelte er. „Der Geiger meinte schon, dass Sie sehr viel mehr geben.“
Steinhauser hielt die CD wie ein Geschenk. Ich muss mein Leben ändern, dachte er und verließ den Laden.

 

 

P.S.: »Flash Fiction – shortshort Storys« wird von Kulturfunke* gefördert – vielen Dank dafür!

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Matthias Kröner - Grüner Weg 44 - 23909 Ratzeburg - Tel.: 0176/32331629