Liebe Freundinnen und Freunde des guten Wortes,
liebe Lyrikfans,
heute geht es mit Gedicht 3 weiter. Bevor wir dazu kommen, zwei Rückmeldungen, die ich mit Ihnen allen teilen möchte. Apropos: Aktuell verfolgen diesen Newsletter mehr als 1.500 Leserinnen und Leser.
Zunächst eine Antwort zu Tag 1 des Münchner Lyrikkollegen Jan-Eike Hornauer, der das "Deutschheit"-Gedicht besonders mochte: "Ein klasse Projekt und ein wirklich toller, ausbalancierter Einordnungstext, der von der Textanalyse aus den Bogen über biographische Dinge und allgemeine Moralfragen hin zu aktueller Gesellschaftskritik schlägt!"
Kulinarisch-anregende Worte hat Jochen Keßler-Rosa zum gestrigen Gedicht gefunden, der wie Rückert aus Schweinfurt stammt und sich bestens auskennt: "Zunächst ganz praktisch: Die Kaffeerösterei befindet sich in der Rückertstraße, ein paar Meter nach Rückerts Geburtshaus. Und ein paar Meter in die andere Richtung gibt es beim Winzer Dahms einen Rückert-Sekt … auch anregend … Nun noch gesagt: Eine tolle Idee mit einer tollen Umsetzung. Mir gefällt die fröhlich-freche Leichtigkeit gepaart mit wissender Kompetenz!"
Genug der Vorrede! Heute geht es um den manchmal nervtötenden Alltag, den auch ein Lyriker à la Rückert ertragen musste …
Viel Vergnügen,
Matthias Kröner
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Man kann sich unter Stöhnen
zuletzt an alles gewöhnen:
an kleine schreiende Kinder,
an große blökende Rinder,
an einen holpernden Wagen,
an einen knurrenden Magen,
an westfälischen Schinken,
gutes Essen und Trinken,
an unterbrochenen Schlummer,
ununterbrochenen Kummer,
Herzweh und Seitenstechen,
Kopfweh und Kopfzerbrechen,
an einen Kranz von Nessel,
an einen harten Sessel,
an Kachelofens Dampfen,
an der Walkmühle Stampfen,
an der Thürangel Knarren
und an das Geschwätz von Narren.
Kurz eingeordnet
Es ist sehr schwer – bis unmöglich! – herauszufinden, wann Rückert welche Gedichte geschrieben hat. Es gibt ein Schlingpflanzenwerk an Lyrik von ihm, das bis heute noch nicht entdeckt und ausgewertet ist.
Was wir aber wissen: Friedrich Rückert war ein Mensch, der durch Höhen und Tiefen ging. Es gab eine Zeit, in der er ausschließlich von den Verkäufen seiner Bücher leben konnte. Er galt als einer der meistgelesenen Schriftsteller seiner Zeit – und etliche seiner Verse wurden sogar vertont: von Schubert, von Clara und Robert Schumann, von Brahms, von Mahler …
Gleichzeitig geriet sein Werk, das auch dem Biedermeier zuzurechnen ist und die bürgerlichen Codes des 19. Jahrhunderts hochhielt, ab 1850 immer mehr außer Mode. Und was wesentlich schwerer wog: zwei seiner zehn Kinder starben drei- und fünfjährig an Scharlach (dazu in einer späteren Folge mehr). Obwohl Rückert – womöglich deshalb – von „ununterbrochenem Kummer“ und „Herzweh“ schreibt, entstand hier in erster Linie ein grimmiges Trotzgedicht gegen die Nervereien des Alltags. Getreu dem Motto: Wenn nichts klappt, mach ich mir einen schwarzhumorigen Reim darauf!
Besonders spannend finde ich, dass der Dichter auch „gutes Essen und Trinken“ in die Liste der Unzulänglichkeiten aufnimmt; will er damit sagen, dass auch diese Köstlichkeiten schal werden? Der Schlussvers bleibt ebenfalls überzeitlich: Man denke nur an das „Narrengeschwätz“ der Populisten – und die Flut an Fake News, die sekündlich dank der (Un-)Sozialen Medien und gezielter Desinformationskampagnen über uns hereinbricht …
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