Liebe Freundinnen und Freunde des guten Wortes,
liebe Lyrikfans,
was ich besonders an diesem Newsletter mag, ist das Miteinander. Anders gesagt: Es ist immer wieder spannend, die Gedichte und Interpretationen durch Ihre Augen und Worte noch einmal anders und neu zu sehen.
So schrieb mir gestern ein Leser: "Wieder ein sehr schönes Projekt, dass Sie sich da herausgesucht haben und sehr fundiert – und wie ich meine – mit sehr viel Liebe zum Wort präsentieren. Äußerst gewinnbringend zu lesen mit Ihren Deutungsansätzen; so auch heute die Anregung, nicht alles als so beständig zu erachten, sondern sich immer wieder vergegenwärtigen, dass es vor drei Generationen hier ganz anders war und in drei Generationen die Lebensweise der Menschen wohl auch ganz anders aussehen wird."
Derselbe Leser wies mich, völlig zu Recht, auf einen kleinen Faktenfehler hin. Simplikios von Kilikien hat nämlich nach (!) Christus gelebt, nicht vor der Zeitenwende, wie von mir behauptet. Bei so vielen Recherchen und Hintergründen geht leider manchmal etwas durcheinander … Da fällt mir ein: Auch zu diesem Thema (Irrtum und Wahrheit) werden wir noch ein Rückert-Gedicht lesen, wahrscheinlich in Folge 28.
Außerdem hat sich mein ältester und bester Freund Marc Jandl zu Wort gemeldet, zum Gedicht "Herbsthauch" (Folge 5): "Wer mal wissen möchte, wie es ohne alte Menschen ist, sollte ein paar Jahre in Montreal (oder einer ähnlichen Stadt auf dem amerikanischen Kontinent) leben. Wer sensibel ist, wird merken, dass etwas fehlt. Die Generation von jungen Immigrant*innen ist von der Lebensweisheit (die, die unabhängig von technischen Neuerungen ist) abgeschnitten. Die Gelassenheit der Alten (vielleicht weil sie gelassen sein müssen) fehlt! Es gibt nur Konkurrenz und Stress."
Wahre und selbst erlebte Worte, und jetzt wenden wir uns einem ganz anderen Thema zu: Was ist Glück, was ist Unglück? Weiß Rückert darauf eine Antwort?
Herzliche Grüße,
Matthias Kröner
|
|
Unglück
Immer scheint die Sonn’ am hellsten,
wann ich muß ins Haus mich schließen;
und die Stunde rinnt am schnellsten,
die ich langsam will genießen.
Wo es Rosen gibt zu riechen,
werd’ ich stets den Schnupfen haben,
und gewiß am Magen siechen,
wo mich soll ein Braten laben.
Immer hab’ ich Lust zu wachen,
wann die Nachtlamp’ ausgegangen;
brauche sie nur anzufachen,
und mich wird der Schlaf umfangen.
Immer war die Stadt unleidlich,
wann ich sollt’ in ihr verweilen,
und gefiel mir dann erst weidlich,
wann ich mußte weiter eilen.
Golden sah ich stets die Ferne,
und die Nähe stets erbleichen,
und nur reizend stets die Sterne,
weil ich nie sie konnt’ erreichen.
Kurz eingeordnet
Worum es seit Johann Christian Günther (1695–1723) – einem Vorläufer Goethes – in der deutschen Lyrik geht, sind die großen inneren Dramen, Subjektivität, persönliche Empfindungen, die Psyche in ihren manchmal aufwühlenden Wellenbewegungen. Friedrich Rückert war ein Meister, die kleinen Tragödien und Tragödchen sehr gekonnt auf den Punkt zu bringen.
Alles, was in den ersten vier Strophen zur Sprache kommt, kennt man nur zu gut! Die grandiosen Stunden, die zu schnell verrauschen, die Magendarmgrippe, die sich ankündigt, sobald eine Hochzeit ansteht, die Stadt, die so reizvoll ist, bevor man sie wirklich betreten hat … Und, apropos Schnupfen: Während ich diese kleine Einordnung schreibe, habe ich eine Erkältung – und bin genervt davon!
Im letzten Vierzeiler hebt Rückert, der in den letzten 18 Jahren seines Lebens zurückgezogen und literarisch aussortiert (obwohl er zahlreiche Ehrungen erhielt!) in Neuses bei Coburg lebte, das „Unglück“ auf eine neue Ebene. Diese ist zwar psychologisch spannend und in ihrer Selbsterkenntnis sehr ehrlich, doch entlastet nicht mehr. Wer seine Sicht ausschließlich auf Misslingendes richtet, sieht – Misslingendes. Es geht gar nicht anders!
Sollen wir deshalb alles ausblenden und optimistisch-naiv durch die Gegend springen? Nöö, aber man muss es sich auch nicht extra schwer machen und nur noch die Sterne sehen, die man nicht erreicht (zumal man sie dann ganz sicher nicht erreicht).
Deshalb soll diese kurze Einordnung heute reichen! Mein Schnupfen und ich begeben sich jetzt auf die Couch, um eine arte-Serie zu streamen, McMafia heißt sie – und wird mich sehr schön ablenken!
|
|
|
|