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Liebe Freundinnen und Freunde des guten Wortes, liebe Lyrikfans,

der Tod ist der große Unbekannte. Obwohl wir jede Nacht üben – und der Schlaf uns in Weiten trägt, die wir nicht erfassen –, fürchten wir uns: vor der Endlichkeit.

Die 16 Gedichte und Geschichten zu Leben und Tod versuchen das genaue Gegenteil. Vom 7. bis 22. Oktober begleiten sie das Festival der Endlichkeit – Moin Tod! Es wird organisiert und ausgerichtet vom Palliativnetz Travebogen.

Es geht darum, das Tabuthema Tod als natürlichen Teil des Lebens zu sehen.

Wenn Sie mögen, schreiben Sie mir und lassen Sie mich an Ihren Erkenntnissen und Gedanken teilhaben.
Denn gerade zu diesem Thema ist ein Austausch sicherlich spannend und wertvoll.

Herzliche Grüße,
Matthias Kröner

 

Tag 7

Prüfungszeit

Ich lief auf die Schlafzimmertüre zu, drückte mit den Fingerspitzen gegen das glasierte Holz und hörte das leise Seufzen der zwei Scharniere. Vorsichtig betrat ich den Raum und setzte mich auf einen der beiden Klappstühle, die jeden Tag vor dem Bett auf Besucher warteten. Ohne ein Wort zu verlieren, berührte sie meine linke Hand.
„Danke, dass du noch einmal bei mir vorbeischaust.“
„Wieso noch einmal? Ich werde noch öfter kommen.“
Auf der Ablage aus Nussbaumholz, von der sich meine Augen noch nicht befreit hatten, bemerkte ich einen Strauß Blumen, die in einer vergilbten Vase hingen. Es hatte den Anschein, als lasen sie in den Magazinen und Zeitungen. Eine einsame Tulpe zählte sogar die Tabletten der Schiebebox. Endlich richtete ich meinen Blick auf Großmutter.
„Wieso noch einmal?“
Die alte Frau schloss die Augen und zog ihre Hand zurück. „Ich liege zu viele Nächte wach und habe Schmerzen, die niemand heilen kann.“
Ich betrachtete die unberührte Doppelbetthälfte meines Großvaters. Seit seinem Tod bestand sie darauf, dass die Matratze mitsamt des Federbetts jede Woche neu überzogen wurde. Meistens hatte meine Mutter diesen merkwürdigen Dienst verrichtet. Da meine Eltern nach Fuerteventura geflogen waren, übernahm ich seit einigen Tagen dafür Verantwortung und erledigte Arbeiten, für die das Pflegepersonal nicht zuständig war.
„Hast du noch einmal mit deinem Arzt geredet?“
Sie schien unter der Bettdecke wie in einem Ozean zu versinken. „Er hat gesagt, dass es keine Hoffnung gibt.“
„Das darf er gar nicht.“
„Ich wollte, dass er die Wahrheit sagt.“
„Ärzte können sich täuschen.“
Vor dem Schlafzimmerfenster bewegten sich die Blätter einer Kastanie. Sie waren noch nicht verfärbt genug, um vom Baum zu fallen. Dafür reiften die ersten Früchte in einem grünen Stachelkleid.
„Ärzte können sich täuschen.“ Ich spürte selbst, dass meine Worte verzweifelt klangen, wie sie kurzzeitig in der Luft schwebten und auf den Boden schlugen.
Großmutter blickte mich wieder an. Ihre blassgrünen Augen, die manchmal so gütig wirkten und wahrscheinlich niemals an einem Gott gezweifelt hatten, waren auf eine ungewöhnliche Weise klar. Sie weiß, dachte ich, dass sie sehr bald sterben wird. Ich brauche ihr nichts mehr vorzumachen. Im selben Moment verschränkte sie ihre steifen Hände.
„Kannst du mir dabei helfen?“
Ich blickte ihr in die Augen. „Wobei?“
„Nimm die Tabletten weg!“
Mein Unterkiefer begann zu zittern. Eine klare Aussage waren wir von Großmutter nicht gewohnt. Zu lange hatte sie sich in ihrer Krankheit wohl gefühlt, zu lange, glaubte ich, dass sie litt, aber noch mehr leiden würde, wenn unsere Anteilnahme, die ohnehin zu versiegen drohte, gänzlich verschwunden war.
Ich schüttelte leicht den Kopf. Ich hatte das Gefühl, als spürte ich, was sich bei jeder Bewegung in ihrem Körper tat. Selbst meine Wirbelsäule, mit der ich noch nie Probleme gehabt hatte, begann zu ziehen.
„Bitte nimm die Tabletten jetzt! Ich bringe dir frisches Wasser.“ Ich nahm die Schiebeschachtel zur Hand. Laut der Anzeige hatte sie seit gestern Vormittag nichts mehr eingenommen.
„Du musst die Tabletten nehmen. Alle. Du bist ohnehin im Verzug. Wenn du sie nicht bald isst, wirst du wahrscheinlich noch heute …“
In ihrem müden Gesicht waren auf einmal Falten, die ich schon so lange nicht mehr bei ihr gesehen hatte. Großmutter lächelte, während ich ihre Hände nahm, über ihren Kopf streichelte und vorsichtig mit ihr redete. Ich versuchte sie ablenken, sie am Leben zu erhalten, meine Worte wie ein starkes Medikament in ihren Körper zu tropfen.
„Weißt du noch, wie wir den Paraglider gesehen haben? Weißt du noch, wie die kleine Tochter der Wirtsfrau zu dir gesagt hat, dass du lustige Augen hast? Weißt du noch, wie wir Canasta gespielt und ich zehn Spiele hintereinander verloren habe? Weißt du noch, wie du mir die Geschichten aus deiner Jugend erzählt hast?“
Sie lag unter der riesigen Bettdecke und nickte. Ich wusste nicht einmal, ob sie die gleichen Gedanken hatte wie ich, doch sie erinnerte sich noch genau an Südtirol. Vor drei Jahren hatte sie mich für zehn Tage eingeladen. „Ich zahle alles“, hatte sie mir versprochen und Wort gehalten. „Du musst uns nur hinbringen.“
Dort saßen wir jeden Tag auf der Veranda einer kleinen Pension, 
aßen Blaubeerkuchen mit Schlagobers, genossen das Panorama, lasen zweitklassige Unterhaltungsromane und speicherten Sonnenstrahlen. Damals lernte ich diesen Menschen kennen, diese mir fremde Frau.
„Es reicht auch“, unterbrach sie meine immer schneller werdenden Sätze, „wenn du die Tabletten auf die Kommode stellst!“ 

Ich befand mich wieder in ihrem Schlafzimmer. Langsam drehte ich meinen Kopf zur Seite. Genau wie das Nachttischkästchen, das Bett und der große Schrank bestand auch die Frisierkommode aus gebeiztem Nussbaumholz. Aus der Rückseite wuchs ein enormer Spiegel. Ich gefiel mir nicht, als ich mich betrachtete. Meine Haut war matt. Wenn ich sie berühre, dachte ich, zerreißt sie wie Krepppapier.
„Ich habe gehofft“, sagte sie, „dass du heute bei mir vorbeischaust. Es ist kein Zufall, dass ich dich und niemand anderen darum bitte.“
„Warum mich? Ich will doch, dass es dir wieder besser geht.“
Erneut war da dieses Lächeln, das sich wie selbstverständlich in ihr Gesicht verirrte.
„Ich denke“, jetzt hustete sie, „schon zu lange darüber nach.“ 
Ich sah auf den Wecker des Nachttischkästchens. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. In Filmen gab es dann immer herzzerreißende Dialoge, Ermahnungen der Verantwortlichkeit und Moral, schmelzende Musik und vernünftige Argumente, doch damit brauchte ich Großmutter nicht zu kommen. Es würde sich unehrlich anhören. Wie ein Staubsaugervertreter, dachte ich.
In diesem Augenblick kam eine Idee herangeflogen. Da war ein Gedanke erst, ein unartikuliertes Ahnen, das sich entfaltete und meine Worte bündelte. „Wenn ich dir die Tabletten wegnehme, werde ich ins Gefängnis gehen. Sie werden Nachforschungen betreiben. Sie werden herausfinden, wer als letzter in deiner Wohnung war. Sie werden die Fingerabdrücke prüfen und mich verhaften.“
„Dann nimm sie und wirf sie bei mir ins Klo!“
„Sie werden dich obduzieren und feststellen, dass die Wirkstoffe in deinem Körper fehlen. Dann werden sie deine Wohnung nach den Tabletten absuchen.“
Ihre falschen Zahnreihen klappten aufeinander. „Die machen doch nicht so einen Heidenaufstand wegen einer alten Frau!“
Obwohl sie in einem unduldsamen Tonfall gesprochen hatte, forschte sie in meinem Gesicht nach Zweifeln. Ich fühlte mich, als wäre ich unter die Glasplatte eines Elektronenmikroskops gespannt. Dennoch fand ich genügend Kraft, um meine Augenbrauen einen Zentimeter nach oben zu schieben und ihr direkt ins Gesicht zu sehen.
„Jetzt sag mal ehrlich: Werden die wirklich nachschauen? Du musst mich nicht vor mir selber schützen. Ich kann schon alleine eine Entscheidung treffen.“
„Dann wirf sie alleine weg!“ 
Diese Aufforderung klatschte wie eine Ohrfeige in ihr Gesicht. „Es tut mir leid“, flüsterte ich, „… aber … willst du denn wirklich … sterben?“
Sie antwortete kurz und knapp. Da war kein Zittern in ihrer Stimme, nicht einmal mehr Verzweiflung.
Ich erhob mich, stellte den Stuhl zur Seite und legte die Tablettenbox auf die Frisierkommode.

Vor dem mehrstöckigen Haus, in dem sie seit über fünfzig Jahren wohnte, suchte ich nach meinem Auto. In einer Seitenstraße wurde ich schließlich fündig.
Auf den Straßen war kaum Verkehr. An einem Sonntagnachmittag schlief selbst eine Stadt mit über 500.000 Einwohnern. Ich versuchte mich mit einem Album von Depeche Mode abzulenken, doch bevor ich auf die Zubringerautobahn einbog, machte ich eine Wende und fuhr zurück. Ich stellte das Auto im absoluten Halteverbot ab und hastete in den fünften Stock. Meine Hände zitterten, als ich die Türe aufriss. Ich polterte in den Flur und schob meinen Blick durch den offenen Spalt ins Schlafzimmer.
Großmutter saß aufrecht in ihrem Bett. Sie hatte mich nicht gehört oder blickte zumindest nicht zu mir her. Mit spitzen Fingern steckte sie die Tabletten in ihren Mund – solange bis die Vertiefung des Tages leer war.
Auf Zehenspitzen stahl ich mich aus der Wohnung. Als ich im Auto saß, erinnerte ich mich an die bevorstehenden Abiturprüfungen. In drei Wochen, dachte ich, und ersetzte die Scheibe durch ein Bob Marley-Album, muss ich wirklich fit sein.

P.S.: »Gedichte zu Leben und Tod« wird von Palliativnetz Travebogen gefördert – vielen Dank dafür!

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