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Liebe Freundinnen und Freunde des guten Wortes,
liebe Lyrikfans,

die kleine Fliege von Tag 10 hat viele beschäftigt, was mich sehr freut (und sicher auch Rückert gefreut hätte!). So schreibt die Exil-Fränkin Jutta Hübner aus Hamburg: "Herzlichen Dank für die tägliche 'Rückert-Post'! Insbesondere die kleine Fliege gilt als wunderbares Beispiel einer Fokussierung auf den Moment, einer 'Verdichtung' des Augenblicks, die ohne Worte so leicht in Vergessenheit gerät! Selbst bin ich in Haßfurt geboren und als Kleinkind sehr oft bei meinen Verwandten in Schweinfurt zu Besuch gewesen. Meine Lieblingstante dort ist eine wahre Rückert-Verehrerin (neben der Verehrung für Rilke und Fontane)! Vor zwei Jahren konnte ich ihr mit einer Rückert-Büste von dem tollen Künstler Ottmar Hörl in Schweinfurter Grün eine große Freude bereiten! Also herzlichen Dank an Sie, insbesondere für die Aktualisierung und historische Einordnung! Diese belebt das Vergangene ganz ungemein und bringt die Worte ins Jetzt! Dort werden sie gebraucht!"

Sehr elegant finde ich auch die Ausführungen des Lyrikers H.U.Gosmann, der sich zum Chidher-Gedicht geäußert hat: "Auffällig an dem Gedicht ist, dass in der ersten Strophe Chidher noch einen Menschen ansprechen kann, der Früchte pflückt, während in der letzten Strophe im Lärm der Stadt niemand mehr zuhört. Ein Hinweis auf eine von der Natur abgekoppelte, destruktive Entwicklung der Menschheit? Aber auch das wird nicht bestehen bleiben, wie alles andere zuvor. Das lyrische Ich befindet sich in der Gegenwart, erzählt von der Vergangenheit und wendet sich der Zukunft zu. Vielleicht wird in 500 Jahren, wenn Chidher wiederkommt, auch die atmosphärische Störung der Erde, die Menschheit, verschwunden sein, die in allen vier Strophen noch eine Rolle spielt, und Geschichte sein wie die Dinosaurier. Bleiben wird die Poesie – die Poesie der Natur und all dessen, was existiert. Sie war immer da und wird immer da sein. Platon hat sie bei seinen Ideen vergessen."

Genug der Vorworte! Stürzen wir uns in ein neues Beispiel Rückertscher Liebesdichtung! Diesmal geht es um eine geglückte Beziehung.

Viel Vergnügen,
Matthias Kröner

 

Ich bin der Welt abhanden gekommen,
mit der ich sonst viele Zeit verdorben.
Sie hat so lange von mir nichts vernommen,
sie mag wohl glauben, ich sei gestorben.

Es ist mir auch gar nichts daran gelegen,
ob sie mich für gestorben hält;
ich kann auch gar nichts sagen dagegen,
denn wirklich bin ich gestorben der Welt.

Ich bin gestorben dem Weltgewimmel
und ruh’ in einem stillen Gebiet.
Ich leb’ in mir und meinem Himmel,
in meinem Lieben, in meinem Lied.

 

Kurz eingeordnet

Rückert hatte zunächst kein Glück – in der Liebe. Seine (vermutlich) erste Freundin Agnes Müller starb unerwartet mit 15 Jahren. Die Gastwirtstochter „Marielies“ Geuß verschmähte ihn. Mit Friederike Heim verband ihn „lediglich“ eine tiefe Freundschaft. Doch dann passierte es: Nach einer ausgedehnten Italienreise, während der Rückert wohl auch unglücklich verliebt gewesen war, quartierte er sich im Oktober 1820 in Coburg im Haus des Archivars Johann Fischer ein. Dessen Stieftochter Luise Wiethaus-Fischer (1797–1857) erhörte den Schriftsteller, am 26. Dezember 1821 heirateten sie – und der glückstaumelnde Mann kam der Welt „abhanden“.
In drei höchst einfachen und deshalb gekonnten Strophen beschreibt Rückert den Rückzug aus dem „Weltgewimmel“. Das Lyrische Ich geht ganz in sich auf – sein „Himmel“ ist sein „Lieben“ und, wie es sich für einen Dichter gehört, sein „Lied“. Das Ruhen „in einem stillen Gebiet“ (man kann fast von einer Aussöhnung mit sich selbst sprechen) ist wichtiger als all die Statussymbole und Erfolge, die man erringen kann. Sehr sympathisch!
Wie modern dieses Gedicht noch heute ist, zeigt die stille und klare Vertonung durch Anne Clark von 1993. Knapp 70 Jahre zuvor bezog sich Thomas Mann im „Zauberberg“ (1924) auf Rückerts Gedicht – und lobte Gustav Mahler für dessen (wie ich finde: etwas lahme) Interpretation in höchsten Tönen.
Zurück zu Frau Rückert: 1821 entstehen dieses und andere Liebesgedichte für Luise, doch erst 1834 erscheinen sie als „Liebesfrühling“, der dann mehrfach aufgelegt und erweitert wird, auf insgesamt 458 Stücke; Rückert war immer maßlos in seiner Produktion! Doch die Liebe zu seiner Frau hält ein ganzes Leben.

 

P.S. Aus heutiger Sicht erinnert Rückerts Liebeslyrik sehr stark an Goethes Gedichte, denen sie – so ehrlich müssen wir sein! – wenig neue Bilder und Ideen hinzufügt. Die schönsten und ehrlichsten Gedichte zu und über die Liebe hat für mich der Österreicher Erich Fried geschrieben. Sie strahlen eine Selbstverständlichkeit und Echtheit aus, die man vielleicht nur nach einem derart bewegten Leben haben kann.

 

 

 

 

P.S. Das Rückert-Projekt wird von der Stadt Schweinfurt, der Rückert-Gesellschaft e. V. und der Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten e. V. gefördert. Vielen Dank dafür – ohne diese Unterstützung wäre das Projekt nicht möglich!

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