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Liebe Freundinnen und Freunde des guten Wortes,
liebe Lyrikfans,

gestern hat mir der Autor und Leiter des Nürnberger Kulturzentrums KUNO e.V. geschrieben. Siegfried Straßner war auf Rückerts Spuren unterwegs: "Ich finde dein Rückert-Projekt ganz wunderbar und verfolge es mit Interesse und Genuss. Apropos Rückert: Gerade an diesem Wochenende war ich in den Hassbergen wandern. Dabei sollte ein Teil der vorgesehenen Strecke auch über den sogenannten 'Friedrich Rückertweg' gehen, der von der lokalen Touristikwerbung auch mit 'Auf den Spuren der Romantik' gepriesen wird. Was soll ich sagen: Der Weg war unpassierbar. Völlig ungepflegt, mit Brombeerranken und anderem Gestrüpp überwachsen, dann wieder durchwühlt von matschigen Spuren von Harvestern. Vielleicht ein Hinweis auf die Bedeutung von Rückert bzw. von Lyrik überhaupt in unseren Tagen?"

Nun, wollen wir das mal nicht hoffen! Zumindest in diesem Newsletter ist es nicht so. Bettina Machler zum Beispiel hat eine sehr schöne Zusatzinterpretation des gestrigen Gedichts gemailt. Dabei wundert es sie nicht, dass "Rückert, der Schreibgetriebene, nur die Sterne reizend fand. Er war überzeugt, sie nie erreichen zu können, und so musste er es gar nicht erst versuchen. Akzeptieren, ohne zu hadern, bringt inneren Frieden und Ruhe."

Das stimmt! Außerdem möchte ich mich für all die Genesungswünsche bedanken – und Ihnen heute eine kleine Fliege nahebringen, der sogar ein Denkmal errichtet wurde … Wie bitte?? Einfach weiterlesen!

Herzliche Grüße,
Matthias Kröner

 

Kleines Denkmal einer kleinen Fliege

Eine Fliege, die ich mir hatte
ausersehen zur Wintergesellschaft,
daß mit mir sie das Zimmer teile,
unvorsichtig dem Tintenfaß
kam sie nahe; sie ist ertrunken,
ist versunken im schwarzen Strome,
der Vergessenheit hingegeben.
Nicht mehr seh’ ich gedankenvoll sie
vor mir hin auf den Blättern schreiten,
meinem leicht abirrenden Auge
vorzuzeichnen die rechte Richtung.
Nicht mehr hör’ ich sie sinnig leise
mein nachsinnendes Haupt umsummen.
Aber wenn ich die Feder tauche
in das Grab, das sie hat verschlungen,
kommt ihr Schatten heraufgestiegen,
spricht mich an um ein Angedenken:
Warum willst du der kleinen Fliege
unter allen den Kleinigkeiten
deiner Kunst nicht ein kleines Denkmal
auch errichten? Hier ist’s errichtet.

 

Kurz eingeordnet

Wäre dieses Gedicht gereimt und nicht, was bei Rückert selten geschieht, in freien Rhythmen geschrieben, könnte man es auch für ein Morgenstern- oder Ringelnatzgedicht halten. Mit dem Unterschied, dass es Jahrzehnte früher verfasst wurde. Doch genau wie bei den deutschen Großmeistern des lyrischen Humors geht es um Kleines, das gern übersehen wird. Hier steht eine Fliege im Vordergrund, die leider dem „schwarzen Strome“ der Tinte erlegen ist – und die Rückert half, seinem „leicht abirrenden Auge / vorzuzeichnen die rechte Richtung“. Besonders schön dabei: die 21 Verse sind selbst wie ein Denkmal aufgebaut, und ich glaube nicht, dass einer Fliege, die sich ein Dichter „ausersehen“ hat „zur Wintergesellschaft“, jemals ein so ansprechendes Poem zuteilwurde!
Wo wir von Denkmal reden: Rückert hat mehrere bekommen, natürlich nach seinem Tod, als seine Verse längst out waren. Das größte von ihnen steht seit dem 19. Oktober 1890 (Tag der Enthüllung) unübersehbar auf dem Markt in Schweinfurt und zeigt den ohnehin zwei Meter langen Mann überlebensgroß sinnierend über seine Blätter, auf die auch sehr gut eine kleine Fliege in Bronze gepasst hätte …

 

P.S. Die Feierlichkeiten mit Festumzug und heute nicht mehr genießbarem deutschnationalen Festgedicht von Felix Dahn steuerten auf ein achtgängiges Festdinner mit knapp 200 Festgästen zu, die sich z. B. einen „Rostbraten mit Maccaroni“, einen „Kalbskopf auf Schildkrötenart“ oder einen „Gebratenen Indian“ (= Truthahn) schmecken ließen – und so gar nichts von den kleinen feinen Beobachtungen des menschenscheuen Dichters wussten, der der Deutschtümelei auch kritisch gegenüberstand (siehe Folge 1).

 

 

 

 

P.S. Das Rückert-Projekt wird von der Stadt Schweinfurt, der Rückert-Gesellschaft e. V. und der Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten e. V. gefördert. Vielen Dank dafür – ohne diese Unterstützung wäre das Projekt nicht möglich!

P.P.S. Schicken Sie diesen Newsletter jederzeit an gute Freundinnen und Freunde, die Lust auf Literatur haben. Wer die Newsletter bekommen möchte, braucht mir nur eine Mailadresse zu schicken oder kann sich direkt anmelden: www.fairgefischt.de/lyrische-post.html

 

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 Rückert Gesellschaft

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