Kleines Denkmal einer kleinen Fliege
Eine Fliege, die ich mir hatte
ausersehen zur Wintergesellschaft,
daß mit mir sie das Zimmer teile,
unvorsichtig dem Tintenfaß
kam sie nahe; sie ist ertrunken,
ist versunken im schwarzen Strome,
der Vergessenheit hingegeben.
Nicht mehr seh’ ich gedankenvoll sie
vor mir hin auf den Blättern schreiten,
meinem leicht abirrenden Auge
vorzuzeichnen die rechte Richtung.
Nicht mehr hör’ ich sie sinnig leise
mein nachsinnendes Haupt umsummen.
Aber wenn ich die Feder tauche
in das Grab, das sie hat verschlungen,
kommt ihr Schatten heraufgestiegen,
spricht mich an um ein Angedenken:
Warum willst du der kleinen Fliege
unter allen den Kleinigkeiten
deiner Kunst nicht ein kleines Denkmal
auch errichten? Hier ist’s errichtet.
Kurz eingeordnet
Wäre dieses Gedicht gereimt und nicht, was bei Rückert selten geschieht, in freien Rhythmen geschrieben, könnte man es auch für ein Morgenstern- oder Ringelnatzgedicht halten. Mit dem Unterschied, dass es Jahrzehnte früher verfasst wurde. Doch genau wie bei den deutschen Großmeistern des lyrischen Humors geht es um Kleines, das gern übersehen wird. Hier steht eine Fliege im Vordergrund, die leider dem „schwarzen Strome“ der Tinte erlegen ist – und die Rückert half, seinem „leicht abirrenden Auge / vorzuzeichnen die rechte Richtung“. Besonders schön dabei: die 21 Verse sind selbst wie ein Denkmal aufgebaut, und ich glaube nicht, dass einer Fliege, die sich ein Dichter „ausersehen“ hat „zur Wintergesellschaft“, jemals ein so ansprechendes Poem zuteilwurde!
Wo wir von Denkmal reden: Rückert hat mehrere bekommen, natürlich nach seinem Tod, als seine Verse längst out waren. Das größte von ihnen steht seit dem 19. Oktober 1890 (Tag der Enthüllung) unübersehbar auf dem Markt in Schweinfurt und zeigt den ohnehin zwei Meter langen Mann überlebensgroß sinnierend über seine Blätter, auf die auch sehr gut eine kleine Fliege in Bronze gepasst hätte …
P.S. Die Feierlichkeiten mit Festumzug und heute nicht mehr genießbarem deutschnationalen Festgedicht von Felix Dahn steuerten auf ein achtgängiges Festdinner mit knapp 200 Festgästen zu, die sich z. B. einen „Rostbraten mit Maccaroni“, einen „Kalbskopf auf Schildkrötenart“ oder einen „Gebratenen Indian“ (= Truthahn) schmecken ließen – und so gar nichts von den kleinen feinen Beobachtungen des menschenscheuen Dichters wussten, der der Deutschtümelei auch kritisch gegenüberstand (siehe Folge 1).