Liebe Freundinnen und Freunde des guten Wortes,
liebe Lyrikfans,
der Lyriker und Leser H.U.Gosmann, den ich immer wieder gerne zitiere, hat sich die Mühe gemacht und eine Rezension des Maroon-Albums herausgesucht – Sie wissen schon, die Metalband, die das gestrige Rückert-Gedicht vertont hat! "Keinesfalls darf der 'Schatten', der letzte Track, unter den Tisch fallen: Nicht nur weil es die erste Nummer in der MAROONschen Bandgeschichte ist, die komplett in Deutsch eingesungen wurde bzw. weil das Textkonzept von Friedrich Rückerts (1788–1866 ) 'Kindertodtenlieder'n inspiriert wurde, sondern weil diese Nummer derart Gänsehaut fördernd unter die Haut geht, dass man leicht erschaudern muss, gerade der Erstkontakt mit diesem sieben Minuten dauernden Song war emotional nur schwer zu verarbeiten!"
Herr Gosmann dazu: "Der fühlbare Schmerz in diesem Gedicht ist fast unerträglich. Hier zeigt sich, was Lyrik leisten kann. Selbst die Heavy-Metal-Hardcore-Fans lässt das nicht unberührt."
Eine andere Leserin schrieb: "Jeden Tag Freude empfinden durch Rückert lesen. Jeden Tag etwas erlernen durch das kluge Einordnen. Jeden Tag Themen erfassen, die Sinn erhellen. Du gibst mir dadurch in meinem hohen Alter Helligkeit und Energie!"
Es ist mir eine Ehre und Freude! Und um Helligkeit geht es auch im heutigen Gedicht. Oder sagen wir es genauer: um Schein und Sein.
Viel Vergnügen,
Matthias Kröner
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Es lassen Schein und Sein sich niemals einen,
nur Sein allein besteht durch sich allein.
Wer etwas ist, bemüht sich nicht zu scheinen.
Wer scheinen will, wird niemals etwas sein.
Kurz eingeordnet
In unserer Ego-Epoche, in der Meinungen wie eine Währung gehandelt werden (oder wie Falschgeld, siehe Fake News!) und wir uns permanent selbst auf den Sockel stellen, um überhaupt noch gesehen zu werden (weil sich die Medien derart aufgefächert haben), liest sich dieses Gedicht wie eine Weisheit aus längst verklungener Zeit – und doch: Sie ist wahr. Natürlich nicht absolut, denn es gibt sie nicht, die absolute Wahrheit. Aber zu 80 Prozent, was ein verdammt hoher Prozentsatz ist!
Wie würde Rückert wohl reagieren, könnten wir ihn fragen, ob er rück(ert)blickend mit seinem Leben zufrieden sei – und einen Ausgleich zwischen Schein und Sein gefunden habe? Ich glaube, der 2,04 Meter große Hüne würde sanft auf uns herabblicken, womöglich die breiten Schultern zucken, leicht den Kopf mit den gelockten, ergrauten Haaren schütteln – und vielleicht antworten: „Ich war nie gerne ein Professor, weder in Erlangen noch in Berlin! Ich war kein Kathederlöwe und konnte mich nie gut anpassen. Wenn es mir zu viel wurde, reagierte ich psychosomatisch und musste Badekuren und Wanderurlaube unternehmen. Kurz, ich entzog mich dem Treiben der Welt – um zu schreiben! Dass ich es geschafft habe, 33 Jahre lang einzig und allein von meiner Kunst – und mit ihr! – zu leben, erfüllt mich mit Glück und einer vorsichtigen Zufriedenheit. Wenngleich ich so gerne mit einem Theaterstück großen Erfolg gehabt hätte; wie Goethe, wie Schiller! Doch niemand nahm meine Stücke ernst. So gesehen, bin ich gescheitert, doch wer in solchen Kategorien denkt, verharrt in Zweifeln und erschafft gar nichts.“
Diesen Sätzen wäre noch schnell hinzuzufügen, dass Friedrich Rückert zweimal (!) als freier Schriftsteller gelebt hat: im Alter von 23 bis 38 und mit 60 bis 78 Jahren. Die Professuren waren allesamt Kompromisslösungen, um seine kinderreiche Familie zu ernähren und seiner Frau eine lebenslange „Wittwen-Pension“ zu ermöglichen. So sehr der sprachverliebte Poet die Zurückgezogenheit liebte, so sehr mochte er aber auch den Austausch mit Freunden und Bewunderern, die ihn häufig besuchten. Rückert war ein leidenschaftlicher Gärtner, erhielt zahllose Ehrungen (z. B. den preußischen Orden Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste), die ihm nicht so wichtig erschienen, und suchte zeitlebens nach einer Ursprache, aus der alle anderen Sprachen entstanden sind. Das konnte nur fehlschlagen! Doch das Interesse an fremdländischer Literatur begleitete und entfachte ihn sein gesamtes Leben.
Mehr Schein oder mehr Sein? Was denken Sie?
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