Sie können diese E-Mail nicht lesen? Webversion öffnen

Liebe Freundinnen und Freunde des guten Wortes, liebe Lyrikfans,

der Tod ist der große Unbekannte. Obwohl wir jede Nacht üben – und der Schlaf uns in Weiten trägt, die wir nicht erfassen –, fürchten wir uns: vor der Endlichkeit.

Die 16 Gedichte und Geschichten zu Leben und Tod versuchen das genaue Gegenteil. Vom 7. bis 22. Oktober begleiten sie das Festival der Endlichkeit – Moin Tod! Es wird organisiert und ausgerichtet vom Palliativnetz Travebogen.

Es geht darum, das Tabuthema Tod als natürlichen Teil des Lebens zu sehen.

Wenn Sie mögen, schreiben Sie mir und lassen Sie mich an Ihren Erkenntnissen und Gedanken teilhaben.
Denn gerade zu diesem Thema ist ein Austausch sicherlich spannend und wertvoll.

Herzliche Grüße,
Matthias Kröner

 

Tag 2

Zwei Spatzen

Der Blick aus meinem Zimmer geht auf ein mit Dachpappe bedecktes Garagendach, das im Sommer warm wird. Während ich auf meinem Hometrainer sitze und durch eine fantastische Landschaft radle, beobachte ich zwei Spatzen.
Es geht Bergkuppen hinauf und hinab. Ich schwitze, im Hintergrund läuft ein Podcast. Doch dort draußen – hinter der Fensterscheibe – geschieht Erstaunliches. Einer der Spatzen hopst in die Mitte des Dachs. Der andere wartet abseits. Manchmal ruckt er den kleinen Kopf. Doch insgesamt ist er ruhig und still und schaut seinem Kollegen zu.
Der prüft eingehend die Dachpappe. Streckt sich dann aus. Und plötzlich hockt er mit dem Hintern auf ihr. Der warmen mit Kies und Schiefersplittern versehenen rauen Folie. Das muss angenehm sein, denke ich und steigere meine Schnelligkeit. Eine Wellnesskur für einen Spatzen.
Er macht Bewegungen, wie ich sie von Vögeln nicht kenne. Er legt jetzt auch die Brust aufs Garagendach. Der andere bleibt in einiger Entfernung bei ihm. Ich wuchte eine Hügelflanke hinauf und wünsche mir, dieser Spatz zu sein. Er chillt, denke ich. Wie wunderbar! Wie seltsam-menschlich sich Tiere verhalten, wenn sie sich unbeobachtet fühlen!
Dann, unerwartet, dreht sich der Spatz zur Seite. Er liegt auf der Dachpappe wie auf einer Chaiselongue. Ich kann es nicht fassen. Niemals, nicht mal im Zoo, habe ich ein Tier, einen Sperling zumal, solche Bewegungen machen sehen. Ich würde gerne von meinem Fahrrad absteigen und ihm ein Buch bringen. Er könnte lesen, der Spatz, so wie er daliegt. Er könnte sogar auftreten in einem Asterix und Obelix für Sperlinge, als dekadenter Sperlingsrömer. Der andere müsste lediglich auf der Harfe spielen.
Doch, seltsam. Der zweite Vogel blickt, ein wenig erschreckt, auf seinen Kameraden, der jetzt fast auf dem Rücken liegt. Der Spatz erinnert mich an den Zauberberg. Daran, wie Hans Castorp auf den Ruhestühlen entspannen musste, todkrank, wie er war oder es sich einbildete.
Der Podcast im Hintergrund ist nur noch ein hohles Brabbeln. Entsetzt stelle ich fest, dass da ein Vogel stirbt. Allein und doch nicht allein auf dem Garagendach. Sein Kumpel bleibt bei ihm. Ich auch, denke ich mir und schelte mich. Weshalb habe ich geglaubt, dass hier Wellness betrieben wird? Von einem Vogel! Das arme Tier hat sich auf seine Weise zurückgezogen, um Abschied zu nehmen – vom Leben.
So sind wir Menschen, denke ich und trete in die Pedale, bis meine Muskeln schmerzen. Der Vogel streckt jetzt ein Bein von sich. Bald werden seine Augen brechen. Der andere bleibt bei ihm. Betet er? Leistet er Beistand, indem er einfach da ist?
Oder ist das auch wieder ein menschlicher Gedanke? Ein Gedanke, der sich einbildet etwas zu wissen, weil wir immer glauben, die Welt begriffen zu haben. Nicht nur unsere, auch die aller anderen.
Ich bin entsetzt, über das menschliche Bewusstsein. Wieso habe ich gedacht, dass der Sperling Spaß hat. Funktioniert so Kolonialismus? Wir – überlegen, weil unsere Wahrheit wahrer scheint … Ich nehme mir vor, den Vogel vom Dach zu holen und zu begraben. Oder ist das ebenfalls eine Anmaßung? Soll ich ihn den Krähen überlassen? Der Katze?
Den Kumpan bewundere ich immer mehr. Er steht dabei. Tapfer. Vielleicht ist es seine Frau, die er gerade verliert. Vielleicht sein bester Freund. Oder ein Kind. Ich kenne mich nicht aus in Spatzenkunde. Ich weiß nur. Da ist einer, der einem anderen beisteht.
Da – der Hometrainer spielt eine Melodie, während ich durch die Ziellinie schieße – rappelt sich der kleine Spatz wieder auf. Er springt auf zwei Beinchen. Schüttelt sich. Spreizt die Flügel. Gibt seinem Spatzenkumpan ein Zeichen und schwirrt davon. Der andere folgt ihm binnen Sekunden.
Ich schalte das Heimfahrrad aus. Ziehe mich um und wasche mich. Im Podcast werden Meinungen ausgetauscht. Viele Meinungen. Viele.

 

P.S. Wer die Geschichte hören mag, sie ist gerade im BR erschienen, gesprochen von Pius Maria Cüppers. Ab Minute 16 geht's los!

P.S.: »Gedichte zu Leben und Tod« wird von Palliativnetz Travebogen gefördert – vielen Dank dafür!

P.P.S.: Schicken Sie diesen Newsletter gerne an gute Freundinnen und Freunde, die Lust auf Literatur haben. Wer die kostenlosen Newsletter bekommen möchte, kann sich jederzeit anmelden.

 

 

Logo Palliativnetz Travebogen
 

Matthias Kröner - Grüner Weg 44 - 23909 Ratzeburg - Tel.: 0176/32331629