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Liebe Freundinnen und Freunde des guten Wortes,
liebe Lyrikfans,

täglich schreiben mir Follower, dass sie sich auf die Lyrische Post freuen. Klasse, so soll es sein, denn das Rückert-Projekt ist ein Projekt für alle! Dabei überraschen mich immer wieder die Interpretationen der Gedichte, die mich erreichen. So schrieb Sigrid Klemenz zu Tag 12 ("Ich bin der Welt abhanden gekommen"): "Als ich die Zeilen das erste Mal gelesen habe, ist mir sofort das Thema Digital Detox eingefallen. 'Welt' und 'Weltgewimmel' könnten in dieser Interpretation die Welt der Sozialen Medien darstellen. Viele Menschen nehmen sich öfters mal eine Auszeit davon, um sich 'in einem stillen Gebiet' (also ohne Handy)  zu erholen und im eigenen 'Himmel' (ohne Internet-Trolls) zu sein. Vielleicht gab es so etwas Ähnliches auch zu Rückerts Zeiten. Klatsch der Gesellschaft, der die Seele vergiftet, bedarf eines Rückzugs, um wieder zu sich zu kommen. Vielleicht bleibt man bei dem Rückzug für immer und kehrt niemals zurück."

So habe ich dieses Gedicht noch nie gelesen und finde diese sehr freie Interpretation bereichernd! Denn: Ab dem Augenblick, an dem ein Autor (oder natürlich auch eine Autorin), sein oder ihr Werk aus der Hand gibt, gehört es allen, die es lesen und – für sich selbst – begreifen wollen. Darin liegt der Zauber der Literatur.

Heute geht es um ein allgemeingültiges Thema, dem Alter und dem Altern.

Viel Vergnügen,
Matthias Kröner

 

Mit vierzig Jahren ist der Berg erstiegen,
wir stehen still und schaun zurück,
dort sehen wir der Kindheit stilles liegen
und dort der Jugend lautes Glück.

Noch einmal schau, und dann gekräftigt weiter
erhebe deinen Wanderstab!
Hindehnt ein Bergesrücken sich ein breiter,
und hier nicht, drüben geht’s hinab.

Nicht atmend aufwärts brauchst du mehr zu steigen,
die Ebne zieht von selbst dich fort;
dann wird sie sich mit dir unmerklich neigen,
und eh du’s denkst, bist du im Port.

 

Kurz eingeordnet

Auch wenn ich im 21. Jahrhundert das zweite Wort in „siebzig“ oder zumindest „sechzig“ ändern würde, halte ich dieses Gedicht für ein äußerst starkes. Es bringt eine allgemeingültige Lebenswahrheit auf den Punkt, eine – um mich mal ausnahmsweise geschwollen auszudrücken – anthropologische Konstante, etwas überzeitlich Menschliches.
Obgleich heutige Hirnforscher bewiesen haben, dass man selbst im hohen Alter noch eine neue Sprache erlernen kann (wenn man sich zum Beispiel als Hundertjähriger in eine 90-jährige Chinesin verliebt!), lassen unsere Kräfte immer mehr nach. Dass es überhaupt so etwas wie Altern gibt, habe ich das erste Mal mit Ende Dreißig erlebt. Inzwischen wird das Haupthaar weniger, und ich brauch eine Lesebrille! Will sagen: unsere Power und Energie ist begrenzt, und wir sollten gut überlegen, womit wir unsere Zeit verbringen …
Was allerdings auch (!) in diesem auf den ersten Blick hochpessimistischen Gedicht steckt: Wenn der Berg bestiegen ist, hat man endlich den Überblick. Zwar „geht’s hinab“ und „die Ebne zieht von selbst dich fort“, doch bis der „Port“ erreicht ist, darf es gern noch ein Weilchen dauern.
So war es übrigens auch bei Rückert, der sein Hauptwerk – die herausragenden „Kindertodtenlieder“ (1834), die wie eine Stele für sich stehen – in der zweiten (!) Lebenshälfte geschrieben hat; mit 46 Jahren. Vorher sind vereinzelte Gedichte wichtig und gut, doch von der schwärmerisch-pathetischen Spätromantik und vom allzu betulichen Biedermeier, das den Menschen zähmen und in den engen Grenzen der Privatheit (abseits aller Politik und Kritik) halten will, befreit sich Friedrich Rückert mehr und mehr – und schreibt verrückterweise, als „der Berg“ längst „erstiegen“ ist, die vielleicht besten freiesten Stücke.
Seltsam, aber auch Theodor Fontane erklomm den Berg der Weltliteratur erst vier Jahre vor seinem Tod, mit der „Effi Briest“, und van Gogh hat in den letzten zwei Jahren seines Lebens sein Hauptwerk erschaffen.
Selbst wenn das Alter zuschlägt, kann der Gipfel also noch immer vor einem in der Ebene liegen. Auch das ist tröstlich!

 

 

 

 

P.S. Das Rückert-Projekt wird von der Stadt Schweinfurt, der Rückert-Gesellschaft e. V. und der Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten e. V. gefördert. Vielen Dank dafür – ohne diese Unterstützung wäre das Projekt nicht möglich!

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