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Liebe Freundinnen und Freunde des guten Wortes, liebe Lyrikfans,

herzlich willkommen zu meinem neuen Projekt »Flash Fiction – 33 shortshort Storys«! Heute und in den folgenden 31 Tagen geht es um Kurz- und Kürzestgeschichten bis höchstens 1.000 Wörter. Diese junge literarische Gattung stammt aus dem anglo-amerikanischen Bereich – und steht der Lyrik nahe.

Wer mag, kann die Flash-Fiction-Storys auch als kleine Lesungen genießen – beim Frühstück, während man pendelt, am Feierabend, in der Badewanne … Außerdem suche ich für Ausgabe 11 und Ausgabe 22 zwei Flash-Fiction-Geschichten von Ihnen, die ich mit 50 Euro honorieren werde.

Viel Freude beim Lesen und Hören!
Ihr Matthias Kröner

 

Die Lichtung

Der Wald roch so gut. Benjamin mochte das Knacken unter seinen Füßen, und er fand es schwindelerregend und gut, die langen Stämme hinaufzublicken. Dorthin, wo das Sonnenlicht nur langsam durchschien. Es war, als würde er sich in einem eigenen Raum befinden.
Manchmal fand Benjamin Pilze, die er sich nicht mitnehmen traute, und einmal verfolgte er einer Herde Rehe, die immer wieder stehen blieb und witterte … Das ging lange, bis er auf eine winzige Lichtung kam, wo ein junger Baum fast in der Mitte stand und die Zweige zur Sonne streckte.
Benjamin lief auf ihn zu, legte sich in den kleinen Schatten und beobachtete die Käfer, die auf dem Waldwiesenboden umherkrochen. Sie schimmerten in ungewöhnlichen Farben, hatten Dornen und Ausbuchtungen, und der Achtjährige, der wie jeden Tag nach den Hausaufgaben in dem gar nicht so kleinen Waldstreifen nahe des Einfamilienhauses am Standrand umherstreifte, fand eine neue, ihm unbekannte Welt. Alles war spannend und alles war gleich schön, egal, ob er Blattwanzen oder Tagpfauenaugen erspähte.
Nur eines bekam Benjamin spät mit. Wie die Sonne die Wipfel der höchsten Bäume streifte und mit einem letzten Spätsommerabendglutbrand herabsank. Er bekam es urplötzlich mit der Angst zu tun. Benjamin stand auf, doch wusste nicht, wo er hergekommen war. Tränen stiegen ihm in die Augen. Das alles ging superschnell, und wenn nicht die Blätter des kleinen Baumes zu ihm geredet hätten, wäre er sicher umhergeirrt und womöglich auch nicht am Morgen aus diesem Wald gekommen. So rannte er durch das Dickicht der Stämme, als hätte er einen Lotsen in seinem Kopf, der die Richtung vorgab. Als Benjamin, wenig später, seine Eltern am Zaun des Grundstücks stehen und rufen sah, wusste er, dass er es geschafft hatte.
Eine Woche hatte Benjamin Waldverbot. Danach hielten seine Eltern dem enttäuschten Blick nicht mehr stand, und er nahm seine Streifzüge wieder auf. Das Harz, das aus den Rinden quoll, erinnerte ihn an Bernstein. Er hörte Spechten zu, roch den würzigen Geruch der Wildschweine, doch bekam nie eines zu Gesicht. Die Lichtung fand er inzwischen spielend, aber Benjamin suchte den Baum nicht mehr auf. Er war ihm auf eine bisher unbekannte Weise unheimlich, auch wenn er sich nicht vorstellen konnte, dass die Blätter wirklich mit ihm gesprochen hatten. Wahrscheinlich, dachte Benjamin, habe ich den Weg zurück selbst gewusst. –
Dann geschah etwas, dass seine Kindheit von einem Tag auf den anderen beendete. Seine Eltern trennten sich. Benjamin hatte damit gerechnet. Er hatte sie streiten hören; immer dann, wenn er in seinem Zimmer war und schlafen sollte. Beim Abendessen taten sie so, als wären es Abendessen wie früher. Doch die Art, wie sie nach Salz oder Apfelsaft fragten, fühlte sich falsch an. Benjamin dachte später, dass es Abendessen-Theatervorstellungen waren, und trotzdem war seine Kindheit erst vorbei, als seine Eltern im Wohnzimmer mit ihm reden wollten und ihm behutsam beibrachten, dass Papa und Mama ab sofort getrennte Wege gehen würden.
Benjamin sprang auf, rannte über die Terrasse zum Zaun und hinein in den Wald, den er inzwischen besser kannte als jeder Forstbeamte und Pilzsucher. Es zog ihn zur Lichtung. Dort legte er sich in den Schatten der größer gewordenen Buche. Benjamin berührte ihre glatte und kühle Rinde. Er döste ein, weil er an nichts mehr denken wollte, und da war sie wieder, die Stimme von einst, die ihm Mut zusprach und ihn tröstete.
Der Elfjährige kam gestärkt aus dem Wald zurück.
Noch einmal rannte er zum Baum, nachdem seine erste Freundin am Telefon mit ihm Schluss gemacht hatte. Nach einem Besuch im Freibad hatte sie sich so seltsam verhalten wie seine Eltern während der letzten Abendessen. Erneut wusste der Baum – inzwischen selbst jugendlich – Rat. Doch es waren keine Ratschläge, wie man sie von Lehrern oder Freunden bekam. Eher Ratschläge, wie sie gute Bücher bereithielten. Es waren Ratschläge mit Fragezeichen.
Dann war Benjamin lange nicht dort. Sein Vater wurde älter und alt, er hatte das Haus behalten. Seine Mutter lebte inzwischen in Italien. Benjamin schloss die Schule ab, studierte Forstwirtschaft, doch brach ab, als er begriff, dass der Wald nur als Wirtschaftsmasse gesehen wurde, nie als Rückzugsort, der einem etwas sagte, das wieder auf neue Fährten führte. Benjamin wechselte zur Philosophie, und tat dann doch, was man als Erwachsener meistens tut. Er fand sich ab.
Nach dem Tod seines Vaters verkaufte er das Haus, machte Karriere in einer Versicherung, gründete eine Familie, bebaute ein Grundstück am Stadtrand, sie machten Urlaube auf Mallorca, in Dänemark … Er führte ein überdurchschnittlich gutes Leben, die Kinder waren längst im Gymnasium. Er verstand sich noch immer mit seiner Frau. Doch fragte er sich jetzt häufiger, wieso diese Leere in ihm so zunahm.
Eine Leere, die nicht gefüllt werden konnte.
Eines Tages, nachdem er die Kinder zur Schule gebracht hatte und ein wichtiger Versicherungsabschluss mit einer großen Holzhandelsfirma bevorstand, schaltete er sein Handy aus und fuhr zu der Stelle, wo sein Vater gewohnt hatte. Er rannte am Haus vorbei in den Wald und kam völlig außer Atem auf der kleinen Lichtung an.
Das Gestrüpp ringsherum hatte die kleine Waldwiese fast erobert. Die Buche stand dort wie ein Mahnmal. Sie sah milde auf ihn herab.
„Ich …“, stotterte er. „Es … tut mir leid, dass ich so lange nicht hier war!“
Sie winkte mit einem ihrer Äste. Oder war das der Wind, der durch die Zweige wehte?
Benjamin legte sich in ihren Schatten. Der Boden war taufeucht. Der Herbst hatte bereits begonnen. Er döste weg.
„So geht es vielen von euch“, wisperte die Buche leise. „Ihr müsst innerlich wachsen. Nicht äußerlich. Wir bereiten uns darauf vor, dass wir absterben. Wir werden wiederkommen! In Jahrhunderten, in Jahrtausenden. Ich sehe keine Chance für euch, wenn ihr nicht innerlich größer werdet.“
Benjamin wachte auf. Er berührte den Stamm der Buche, der nicht mehr so glatt war wie einst. Trotzdem fühlte er sich gut an. Mit Falten, die an Landkarten erinnerten.
Benjamin lief langsam zurück zur Straße. Er sah das große Auto. Er sah das Haus seines Vaters.
Es kam ihm so vor, als sähe er das alles zum ersten Mal.

 

 

P.S.: »Flash Fiction – shortshort Storys« wird von Kulturfunke* gefördert – vielen Dank dafür!

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Matthias Kröner - Grüner Weg 44 - 23909 Ratzeburg - Tel.: 0176/32331629