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Liebe Freundinnen und Freunde des guten Wortes, liebe Lyrikfans,

herzlich willkommen zu meinem neuen Projekt »Flash Fiction – 33 shortshort Storys«! Heute und in den folgenden 10 Tagen geht es um Kurz- und Kürzestgeschichten bis höchstens 1.000 Wörter. Diese junge literarische Gattung stammt aus dem anglo-amerikanischen Bereich – und steht der Lyrik nahe.

Wer mag, kann die Flash-Fiction-Storys auch als kleine Lesungen genießen – beim Frühstück, während man pendelt, am Feierabend, in der Badewanne …

Viel Freude beim Lesen und Hören!
Ihr Matthias Kröner

 

Die Montagsfahrten des Gregor Perlhuhn

Gregor Perlhuhn freute sich jeden Montag auf seine Trambahnfahrt. Ja, genau, seine Trambahnfahrt. Denn die Freude über einen Montag in dieser Tram war für Gregor so groß, dass er den Weg von der kleinen Haltestelle vor seiner Wohnung zum Schulgebäude nicht anders als mit einem besitzanzeigenden Fürwort bezeichnen konnte. Das war, streng genommen, natürlich falsch. Die Fahrt, ob an einem Montag oder nicht, gehörte der ganzen Stadt, genauer: Sie gehörte den Menschen, die ein gültiges Ticket besaßen und mit ruhigem Gewissen auf ihren Ausstieg warteten. Den Schwarzfahrern gehörte sie nicht, denn sie sahen sich ständig um und erkannten in ihren Mitmenschen den Kontrolleur.
An manchen Tagen kam es Gregor so vor, als wollte niemand die Tram verlassen, als böte sie einen Schutz, der sie alle einschloss: die Frauen mit den großen Kinderwägen, die bärtigen Männer in ihrer hippen Sportkleidung, die Pendlerinnen und Pendler, manche mit Aktentaschen und langen Mänteln, die, obwohl sie ein Auto besaßen, den Stau der Innenstädte vermeiden wollten. Und sie gehörte den Pullover- und Jackenbesitzern wie ihm, die sich, so jedenfalls dachte Gregor, keine Sorgen um eine Familie machen durften. Zumindest in dieser Tram waren sie alle gleich: egal, was sie aus ihrem Leben gemacht oder eben nicht gemacht hatten.
Manchmal vergaß Gregor sogar, dass ihn der Schulberuf mürbe machte. Und wenn er wirklich verwegen war, also in einer Stimmung, die er nicht allzu oft von sich kannte, stellte er sich vor, wie er aufstand und zu der Frau hinüberging, schräg gegenüber, von der er während der Fahrt immer nur den großen, umgeschlagenen Kragen und die kastanienbraunen Haare sah, und mit ihr ein Gespräch begann.
Sie fuhr immer am Montag mit, und, naja, vielleicht lag auch darin die innere Ruhe, die er gerade zu Wochenbeginn, also dem anerkannt schrecklichsten Tag der Woche, bei sich entdeckte. Wenn er es ganz genau bedachte, war sie der ausschlaggebende Grund, weshalb ihm die Fahrt, besonders am Montag, so außergewöhnlich gut gefiel.
Jedenfalls hätte er es unter keinen Umständen gewagt, mit der kastanienbraunen Frau zu sprechen, bis – ja, bis sie an einem Montag nicht an dem Platz, den sie seit Monaten einnahm, zu sehen war.
Gregor spähte von einer Ecke der zwei Waggons zur anderen, er suchte, wo er schon mehrfach mit seinen Augen gestöbert hatte. Doch in der Tram war sie nicht zu sehen. Dort, wo sie immer gesessen hatte, saß jetzt ein Mann, der seine Kahlheit vertuschen wollte, indem er die Haare quer über den Schädel kämmte.
Gregor rutschte auf dem Sitz hin und her. Die Fahrt kam ihm düster vor, quälend. Die Haltestellen machten ihn nervös. Sie spien die Leute aus, andere stiegen zu, die er nicht kannte, die zu niemand gehören wollten. Und auch die Arbeit im Klassenzimmer war anstrengend. Es störte Perlhuhn, wie er mehrfach von seinen Schülern wegen seines nicht gerade schulberufkompatiblen Nachnamens geärgert wurde.
Die Woche verging mit Zweifeln. Immer wieder stellte er sich vor, was mit der Frau geschehen war. War sie von einem Schneeräumer überfahren und tödlich verwundet worden (denn am Montag hatte es wüst geschneit)? Oder lag sie hilflos in ihrer Wohnung? Weil sie alleine war, weil ihr die Freunde fehlten, trotz oder gerade wegen ihrer alles überragenden Schönheit? Und jeden Morgen hoffte Gregor sie doch zu sehen; sie muss, dachte er, zumindest als Ausgleich am Dienstag, Mittwoch, Donnerstag oder Freitag mit dieser Tram … Es kann beim besten Willen nicht sein, dass gerade sie, die kastanienbraune Frau … – Doch auch am zweiten Montag fehlte jede Spur von ihr.
Gregor spähte und suchte. Inzwischen kannte er alle Fahrgäste: die meisten versanken hinter den kleinen Bildschirmen der Handys, andere hatten Stöpsel in ihren Ohren, die die lauten Rhythmen in die Trommelfelle der Mitfahrer transportierten, dritte starrten ungerührt vor sich hin.
Sahen sie nicht, was geschehen war? Achteten sie so wenig auf ihre Mitmenschen?
Gregor überlegte, was jetzt zu tun war. Zwei Reihen vor dem Platz, wo die kastanienfarbene Frau gesessen hatte, saß eine blonde Frau. Wenn ihn nicht alles täuschte, kannte er sie seit Monaten; sie war wahrscheinlich dieselbe Strecke wie er gefahren. Vielleicht hatte sie ebenfalls ihre Theorien über das Verschwinden der anderen Frau, überlegte Gregor. Es können doch nicht alle so klobig sein!
Gregor wartete drei Haltestellen ab. Dann setzte er sich in Bewegung.
„Entschul…“, sagte Gregor. Er räusperte sich. Da war ein Frosch, der in seinem Hals nach oben wollte.
„Entschuldigung“, brachte er jetzt heraus. Sie sah ihn nur an und lächelte. Er war so verdutzt, dass seine Gedanken ungefiltert nach außen drangen. „Haben Sie eine andere Haarfarbe?“
Die ehemals kastanienfarbene Frau lachte. „Schön, dass Sie das bemerkt haben.“
„Aber, aber“, stotterte Gregor, „wieso sitzen Sie nicht da drüben?“ Er deutete auf den Mann mit der merkwürdigen Kämmfrisur. „Sie können doch nicht einfach …“
„Ich wollte wissen, ob Sie mich noch erkennen. Wie lange fahren wir jetzt zusammen: sechs Monate, sieben Monate?“
„Aber, aber“, stotterte Gregor. Dann wurde er ganz ruhig, so ruhig, als säße er seit einer Woche in dieser Tram (einer Woche, die nur aus Montagen bestehen würde). Als gäbe es nichts außer der Fahrt und ihn. Außer der blonden Frau, die – unglaublich – binnen einer Woche ihre Haarfarbe und ihren Sitzplatz verändert hatte.
Als bliebe das Leben zwischen zwei Stationen ganz einfach stehen.

 

 

P.S.: »Flash Fiction – shortshort Storys« wird von Kulturfunke* gefördert – vielen Dank dafür!

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Matthias Kröner - Grüner Weg 44 - 23909 Ratzeburg - Tel.: 0176/32331629