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Liebe Freundinnen und Freunde des guten Wortes, liebe Lyrikfans,

herzlich willkommen zu meinem neuen Projekt »Flash Fiction – 33 shortshort Storys«! Heute und in den folgenden 22 Tagen geht es um Kurz- und Kürzestgeschichten bis höchstens 1.000 Wörter. Diese junge literarische Gattung stammt aus dem anglo-amerikanischen Bereich – und steht der Lyrik nahe.

In dieser Ausgabe ist – wie versprochen – eine Geschichte von Ihnen veröffentlicht! Ich habe mich für eine Flash-Fiction-Story entschieden, die mir persönlich am besten gefallen hat. Falls Ihre Einsendung (noch) nicht das Rennen gemacht hat, nehmen Sie es bitte sportlich. Ich habe selbst einen Aktenordner mit Absagebriefen in meinem Schrank – auf ihn zu blicken, ist eine gute Übung, um geerdet und gelassen die Worte zu Sätzen zu fügen, aus denen manchmal Geschichten werden.
Außerdem sei betont: Alle eingereichten Geschichten haben in Ausgabe 22 eine zweite Chance! Bis dahin nehme ich zudem neue Flash-Fiction-Storys entgegen.

Viel Freude beim Lesen!
Ihr Matthias Kröner

 

Die traurigen Zehen
Eine Flash-Fiction-Geschichte von Jochen Weeber

An einem heißen Juni-Tag habe ich dich zum ersten Mal gesehen. Zwei volle Einkaufstüten am Lenker bin ich vom Rad gestiegen und habe schließlich minutenlang geglotzt. Ganz am Ende der Ludwigsallee war das, du hast mit ein paar anderen in der Halfpipe trainiert, zwischendurch habt ihr euch über Slides und Flips unterhalten, und darüber, wer sich an welche Schwierigkeit herantraut, und während ihr das tatet, hatte ich bereits unbändige Lust, mit dir nach Hause zu gehen und wilde Sachen zu machen.
Du hattest eine weite, tiefsitzende Cordhose an, ein enges Shirt und eine Mütze. Alle deine Bewegungen haben mich fasziniert, und auch die stillen Momente, während du am Rand der Halfpipe standest und dich auf den kommenden Sprung konzentriertest. Ich stand neben der Rampe und dabei ist mir schließlich der gefrorene Kabeljau davon getropft. Ohne es zu merken, stand ich plötzlich in einer kleinen Pfütze.
„Übrigens“, meintest du, „deine Füße … rundherum Wasser.“
Ich blickte nach unten.
„Meine Füße, ja“, stockte ich, „das ... passiert mir oft.“
Verzweifelt suchte ich nach einer Erklärung, während du auf deinem Brett saßt und mich anblicktest. Irgendetwas, vielleicht deine Augen, hinderte mich zu gestehen, dass meine Schuhe soeben in Kabeljauwasser aufweichten. Und so sagte ich stattdessen:
„Eine der Zehen wird traurig sein. Zurzeit sind die dauernd am flennen.“
„Und welche sind trauriger – die linken oder die rechten?“
„Heute“, blickte ich nach unten, „eher die rechten“.
Dann hast du mich angelächelt.
Nach diesem Mittag bin ich täglich mit tiefgefrorenem Fisch an der Rampe vorbeigefahren. Ganz egal, wo ich fortan in der Stadt unterwegs war – am Ende bin ich immer mit Fisch durch die Ludwigsallee geradelt. Dabei haben wir uns zugenickt oder gezwinkert, manchmal auch geplaudert, und nach drei Wochen hab ich dich dann gefragt. Und du hast tatsächlich ja gesagt.
Bereits am selben Abend hast du an meiner Tür geklopft, und so hat es angefangen. Ich zog dich in die Wohnung, während du ganz still warst. Du hast bloß meine Hand gehalten und die Augen zugemacht. Langsam habe ich dir das Board unterm Arm rausgezogen und es in die Küche rollen lassen. Kurz bevor es gegen die Kühlschranktür stieß, löschte ich das Licht. Dann führte ich dich zum Bett.
„Zieh mich aus“, sagtest du, und ich begann.
Jeden Samstag zwischen fünf und sechs trafen wir uns fortan, damit ich dich ausziehen konnte. Du hattest niemanden mehr, der das tat, und ich wollte das für dich erledigen. Schließlich kamen Dienstage dazu und auch Donnerstage, und dann kannten wir uns gut miteinander aus. Aber die Samstage waren am schönsten, und nach einem guten Dutzend davon hast auch du begonnen, mich auszuziehen, und dabei hat es mich meist ziemlich durch die Luft gewirbelt.
Ein paar Monate ging das so. Den ganzen Sommer über und dann den Winter. Ich war verrückt nach dir, nach allem, was du warst. Im Sommer habt ihr draußen trainiert und im Winter in der Halle, und immer war ich in deiner Nähe. Ich trug deine Tasche und achtete auf deine Schuhe. Ich hielt deine Cola und verzehrte mich. Ich verzehrte mich nach Samstagen. Nach Dienstagen und Donnerstagen. Ich markierte sie im Kalender. Sa, Di, Do, immer wieder, während ich auf dich wartete, nahm ich den Kalender von der Wand und markierte die Tage mit dir.
Ein Jahr lang ging das so. Dann ließ es auf einmal nach. Innerhalb weniger Wochen, ganz ohne Vorwarnung. Erst brachen die Dienstage weg, dann die Donnerstage. Für ein paar Wochen hatten wir noch Samstage, aber du warst bereits meilenweit weg. Das mit uns, sagtest du, sei zuende geliebt. Ich solle in Zukunft wieder eine andere Strecke nehmen, wenn ich mit meinem Fisch nach Hause radele.

 

Zum Autor: Jochen Weeber, *1971, von ihm lesen kann man u. a. den Roman „Herr Lundqvist nimmt den Helm ab“ und das Kinderbuch „Was ist bloß mit Gisbert los?“. Er lebt mit seiner Familie und Kater Rudi in Reutlingen. Außerdem spielt er gerne Akkordeon und Tischtennis, aber nicht gleichzeitig. www.jochenweeber.de

 

 

P.S.: »Flash Fiction – shortshort Storys« wird von Kulturfunke* gefördert – vielen Dank dafür!

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Matthias Kröner - Grüner Weg 44 - 23909 Ratzeburg - Tel.: 0176/32331629