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Liebe Freundinnen und Freunde des guten Wortes, liebe Lyrikfans,

heute einmal keine längeren Vorworte. Dafür eine längere Geschichte – natürlich eine, die von unserem Thema handelt: von Leben und Tod.

Übrigens: Stand heute sind es exakt 1.700 Menschen, die diesem Newsletter folgen. Ich würde ja total gerne mit Ihnen die 2.000er-Marke knacken. Aber ich fürchte, so viele interessieren sich nicht für Gedichte (und Short Storys). Schon 1.700 sind eine unfassbare Zahl!

Herzliche Grüße,
Matthias Kröner

Flugzeugschlieren

Es war ein Sommer, wie ihn Stephen King in seinen Romanen beschrieben hatte: wüstenheiß, staubtrocken, eine unergründliche Schwüle lähmte die kleine Stadt. Ein Sonnenball brannte auf das riesige Einkaufszentrum, in dem ich einen Ferienjob ergattert hatte.

Wenn ich das Gebäude zur Mittagspause verließ, stieß ich auf eine Wand aus Hitze. Dann setzte ich mich an die hintere Seite des Getränkemarktes unter das Schattendach eines Baums und vergrub mich in Clockwork Orange, einen Roman, der mich in diesen Tagen in seinem Bann hielt. Ich brauchte die Ruhe nach all den Waren, die mich mit ihrer schreienden Werbung für mindestens acht Stunden am Tag umgaben.

Zum Glück arbeitete man unter klimatisierten Bedingungen. Meine Tätigkeit bestand im Auffüllen von Regalen. Ich fuhr Paletten aus einem großen Lager und sortierte die Lebensmittel in die dafür vorgesehenen Fächer. Dann holte ich die nächste Palette mit einem Hubwagen, um schon wieder an die übernächste Fuhre zu denken. Zwischendurch wurde ich von ergrauten Herren nach den Reihen mit den Spirituosen gefragt. Manchmal suchten Kinder ein Wassereis.

Ich dachte in diesen Tagen an viel zu viel. Vor eineinhalb Jahren hatte ich noch mit den Kindern der Nachbarschaft in den Neubauruinen des Viertels Indianer gespielt. Immer wieder kam unser Gespräch auf Mädchen, doch flaute ebenso abrupt wieder ab. Diese neuen Gefühle hingen wie ein nasses Kleidungsstück in der Luft; man war erwachsen, wurde aber noch immer als Kind behandelt.

Wenigstens musste ich mich in der Schule nicht mehr so oft behaupten; die Zeit des Klassenkampfs war vorbei. Ich versuchte, meinen Kleidungsstil zu entdecken, die richtigen Sätze im geeigneten Augenblick loszuwerden, den Mädchen auf eine überlegene Weise nachzusehen, die entscheidenden Bücher zu lesen – und einen Ferienjob zu finden. Mir ging es gar nicht so sehr ums Geld; es war eher der Versuch, einer festen Tätigkeit nachzugehen, eine Struktur in mein Leben zu bringen, eine Identität zu suchen (auch wenn ich dieses Vorhaben unter keinen Umständen so formuliert hätte). Mein Leben war wie alle vierzehnjährigen Leben durcheinander geraten. Ich litt an einer bestimmten Sprache, der man zu folgen hatte; war man authentisch – ein Wort, das ich damals noch gar nicht kannte –, fiel man mit großer Wahrscheinlichkeit durch das Raster.

Während der heißen Tage machte ich jeden Mittag um zwölf Uhr Pause. Dann hatte ich die ersten fünf Stunden bereits geschafft. Ich kaufte mir eine Cola und ein belegtes Brötchen, schulterte meinen Rucksack und verkroch mich hinter einem Betreten-Verboten-Zaun unter mein Schattendach, das mich eine halbe Stunde mit Kraft versorgte. Die Luft war sämig wie geschmolzener Gouda, die Silhouetten der Autos flirrten und der Horizont war ein blassblauer Kondensstreifen, der an den Rändern ausfranste.

Nach zwei Tagen hatte ich den Roman schon zur Hälfte durch (und überlegte ernsthaft, nur noch zwanzig Seiten am Tag zu lesen), als unerwartet eine Kollegin auftauchte. Sie war vom Getränkemarkt, den ich am Vormittag mit enormen Mengen an Apfelsaft versorgt hatte. Zu mehr als einem Nicken war es zwischen uns nie gekommen.

„Darf ich mich zu dir setzen?“

Ich nickte. Nach strengen Kriterien war sie nicht überragend schön und mit Sicherheit schon über dreißig, vielleicht sogar Mitte dreißig. Sie erinnerte mich an ein exotisches Tier im Zoo, an einen Kranich, dem man die Flügel gestutzt hatte. An ihrer Aussprache meinte ich zu erkennen, dass sie schon lange in Deutschland lebte.

„Was liest du?“

Ich deutete auf den Einband des Buches, das ich noch immer geöffnet in meiner Hand hielt.

„Clockwork Orange.“

„Was ist das?“

„Ein Buch über einen Jugendlichen.“ Aus meinem Mund hörte es sich seltsam an: Jugendlicher. „Ein Buch über einen Jugendlichen“, fuhr ich fort, „der medizinisch dazu gezwungen wird, gut zu sein.“

Am Himmel hing ein windschiefes Kreuz aus Flugzeugschlieren, das mit jeder Minute in sich zusammenschmolz. Es war erstaunlich, mit ihr über das Buch zu reden. Sie hörte mir zu, als gäbe es nichts Spannenderes auf der Welt, als einem gerade vierzehnjährigen Jungen zuzuhören, einem Kind, das begonnen hatte, sich selbst zu suchen.

„Und was hast du mit dem Buch zu tun?“

„Was meinst du?“

„Ich frage mich, warum es dich interessiert.“

Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Warum interessierte einen ein Buch? Weshalb stellte sie solche Fragen?

„Lass uns morgen wieder hier Mittag machen! Ich bin gespannt, wie die Geschichte ausgeht.“

Damit erhob sie sich, überquerte den Parkplatz, auf dem das Wuseln zur Mittagszeit überschaubarer geworden war, brachte Autos zum Anhalten und wurde von den elektrischen Schiebetüren des Einkaufszentrums verschluckt.

An diesem Tag tat ich mich mit den Waren schwer. Ich stellte die Haarsprays zu den Spaghettis, schickte eine ältere Dame mit einem Gehwägelchen für eine Packung Strumpfhosen an die Fleischtheke und vergaß vor lauter Aufregung, was zu trinken. Auf dem Nachhauseweg mit dem Rad spürte ich meine Nieren; sie zogen, als hätte ich einen Muskelkater.

Was mich beherrschte, war eine Frage: Was wollte die Frau von mir?  Zu Hause verzog ich mich vor den Fernseher. Die Sequenzen liefen an mir vorbei, ohne dass ich die Zusammenhänge begriff. Dann widmete ich mich erneut dem Buch. Es mir einzuteilen, die Geschichte spannend zu halten, war der Vorsatz einer anderen Zeit, der mir unangenehmer erschien als das bittere Bier, an dem meine Kumpels und ich seit einigen Wochen übten. Ich sperrte mich in mein Zimmer ein und begann zu lesen.

Bis morgen um zwölf musste ich etwas zu sagen haben.

Am nächsten Vormittag vergingen die Stunden zäh. Draußen war es so heiß wie an den Tagen vorher. Es roch nach verbrannten Feldern, der Sommer steuerte auf einen Höhepunkt zu, während meine Kollegen und ich in der Tiefkühlkammer vor Kälte bibberten. Es war nicht so kalt wie an frostharten Wintertagen, die Temperatur war mit nichts vergleichbar; eine ferngesteuerte Kälte, gemacht, sie entsprach keinem Wetter, das draußen in der wirklichen Welt existierte.

Während wir das Fleisch in die richtige Position rückten, Packungen neu verschweißten und die Folien mit Preisschildern auszeichneten, wiederholte ich im Kopf die Geschichte. Alex, der Held des Romans, war von seinen Freunden verraten worden; er saß im Knast, versuchte sich mit dem Gefängnispfarrer zu arrangieren und hatte von einer Methode gehört, wie man schneller entlassen wurde. Man wusste nicht, was passieren würde, doch ahnte bereits das Schlimmste. – Ich werde einen Cliffhanger einbauen, schwor ich mir, damit sie die Mittagspausen der ganzen Woche mit mir verbringt.

Irgendwann war es dann wirklich zwölf. Seit zwanzig Minuten hatte ich auf die Uhr geschaut. Ich zog meinen Kittel aus, schnappte den schweren Rucksack, den ich schon am Morgen mit Cola und Käsebrötchen gepackt hatte und schlenderte, mich bewusst zur Ruhe zwingend, durch die Kassenausgänge zu den elektrischen Schiebetüren.

Die Hitze, die mich empfing, war mörderisch, der Unterschied zur Kühlkammer beinahe unerträglich. Binnen weniger Sekunden stand mir der Schweiß auf der Stirn. Ich kam mir vor wie nach einem Wüstenmarsch. Mit jedem Schritt meinte ich, meine Energie zu lassen.

Die exotische Frau saß bereits neben den Wasserflaschen.

„Komm mit“, sagte sie, bevor ich das Schattendach überhaupt erreicht hatte.

Ich folgte ihr wie ein kleines Kind, das in einem verbotenen Haus herumstreunt. Am liebsten wäre ich sofort weggerannt.

Wir hielten an einer Ecke hinter zwei Glascontainern. Hier roch es faulig, zwei Wände liefen schräg aufeinander zu; ich meinte, die eine Seite des Kühllagers zu erkennen, die mit der westlichen Wand des Getränkemarktes zusammentraf.

„Hast du schon mal eine Frau geküsst?“

Ich schüttelte unabsichtlich den Kopf.

„Mein Junge auch nicht, jedenfalls – soviel ich weiß … Er ist hier an dieser Stelle gestorben.“

Sie deutete auf einen Fleck, der auf Öl oder eine andere Maschinenflüssigkeit schließen ließ.

„Ein Gabelstaplerfahrer hat ihn zu spät gesehen.“

Die Sonne brannte. Die Gebäude schwankten und schienen Feuer zu fangen. Der faulige Geruch wurde stärker. Und ich konnte nicht anders als wegzulaufen, auf mein Fahrrad zu steigen und durch die Stadt zu rasen. Autos kamen mir in die Quere und bremsten, doch ansonsten war die Stadt wie gelähmt. Nur vor den Cafés unter Markisen saßen die Menschen und lachten.

Erst zwei Stunden später kam ich zurück ins Lager. Der Vorarbeiter ermahnte mich, doch verschwieg den Fall seinem direkten Vorgesetzten. Wir etikettierten die Fleischpakete. Die Sonne schien, die Frostkammer verströmte ihre simulierte Kälte, eine Kälte, die gar nicht von dieser Welt war. Die Fleischpakete wanderten in die Regale, Menschen griffen danach und zahlten.

Alles war ganz normal.

P.S.: Wer sich für die »Gedichte zu Leben und Tod« von 2023 interessiert, wird auf meiner Internetseite fündig!

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