Liebe Freundinnen und Freunde des guten Wortes,
liebe Lyrikfans,
es ist schön, wie ein Schriftsteller, der mir – zunächst – selbst gar nicht soo viel bedeutet hat, hier wieder zu Ehren kommt und dank Ihrer Nachrichten in die Gegenwart geholt wird! So schrieb zum Beispiel gestern eine Leserin: "Danke für die tägliche Lyrische Post, ich erinnere mich an einen Text von Rückert aus meinem Poesiealbum (von 1954): 'Dein Auge kann die Welt trüb oder hell dir machen, wie du sie ansiehst, wird sie weinen oder lachen.' Wie wahr!"
Ich habe soeben nachgesehen. Bei diesem Zweizeiler handelt es sich um einen Auszug aus "Die Weisheit des Brahmanen", ein Riesengebilde an Reimgedichten, aus dem wir schon in Folge 6 etwas gelesen haben und auch heute etwas hören! Die zwei Verse aus dem Poesiealbum sind die Anfangszeilen eines kleinen Gedichts, das so weitergeht: "Dein äußres Auge kannst du schärfen selbst und üben; / o hüte dich vielmehr, dein inneres zu trüben! // Wenn rein dein innres schaut, das äußre mag erblinden, / du wirst das helle Bild der Welt im Herzen finden."
Dazu passt eine andere Nachricht, die so beginnt. "Rückert muss ein sehr intensiv fühlender Mensch gewesen sein, der seine Gefühle monomanisch (wie Sie schrieben) in Gedichten zum Ausdruck bringen konnte. Auf diese Weise konnte er sie verarbeiten und sich entlasten." Da ist was dran! Obgleich Rückert nicht immer nur über eigene Gefühle, sondern auch über Erlebnisse und Ereignisse geschrieben hat, von denen er in der Zeitung las oder über Freunde erfahren hat. Und manchmal sind seine Gedanken auch abgelauscht von fremdsprachigen Dichtungen, die er im Kern erfassen wollte, indem er sie nachdichtete. Welche Bedeutung für Rückert Sprache und Fremdsprache hatte – darum geht es im heutigen Gedicht!
Viel Vergnügen,
Matthias Kröner
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Mit jeder Sprache mehr, die du erlernst, befreist
du einen bis daher in dir gebundnen Geist,
der jetzo tätig wird mit eigner Denkverbindung,
dir aufschließt unbekannt gewesne Weltempfindung,
Empfindung, wie ein Volk sich in der Welt empfunden;
nun diese Menschheitsform hast du in dir gefunden.
Ein alter Dichter, der nur dreier Sprachen Gaben
besessen, rühmte sich, der Seelen drei zu haben.
Und wirklich hätt’ in sich nur alle Menschengeister
der Geist vereint, der recht wär’ aller Sprachen Meister.
Kurz eingeordnet
Zugegeben, dieses Gedicht kommt ein bisschen sperrig daher. Doch wenn man es zwei-, dreimal gelesen hat, kann man nicht anders, als zuzugeben: Der Mann hat recht! Wer schon einmal in einer anderen Sprache gedacht, ja geträumt hat, weiß, wovon Rückert hier spricht. Unsere Erkenntnisfähigkeit nimmt zu, unser Mitgefühl ebenfalls, wir denken uns ein in andere Kulturen – sobald wir deren Sprachen sprechen!
Rückert selbst war Professor für Orientalistik in Erlangen (ab 1826) und später auch in Berlin (ab 1841) und galt als höchst angesehener Übersetzer; er gilt es bis heute. Kunststück! Das Sprachgenie beherrschte 44 (!) Sprachen, darunter Altkirchenslawisch, Gotisch, Samaritanisch, Hawaiisch oder Taschagataisch. Bereits 1822 erschienen seine „Östlichen Rosen“, eine Antwort auf Goethes „West-östlichen Diwan“ (1819), die der Weimarer Klassiker ausdrücklich lobte!
Zurück zu den zehn Versen: Sie stammen aus Rückerts sage und schreibe 2.789 Gedichte umfassenden Zyklus, der in sechs Bänden zwischen 1836 und 1839 erschien – und „Die Weisheit des Brahmanen“ heißt. Vieles in diesem Werk ist unserem heutigen Zeitgefühl nicht mehr zugänglich. Doch wenn ich dieses lyrische Stück zum vierten und fünften Mal lese, frage ich mich, ob die unselige Migrationsfeindlichkeit (die eigentlich eine Angst vor Fremdheit ist) vielleicht nur wegen der babylonischen Sprachverwirrung besteht. Weil wir uns nicht verstehen oder aneinander vorbeireden – aufgrund der Sprachbarrieren.
In Douglas Adams „Per Anhalter durch die Galaxis“ (1979) wird dieses Problem durch den „Babelfisch“ gelöst, der sogar interstellare Sprachen perfekt übersetzt – und es scheint so, dass die Künstliche Intelligenz der Zukunft zumindest weltweite Sprachsysteme sehr gut erfassen werden wird. Die sich anschließende Frage lautet: Wird die Menschheit dann einer bessere? Wahrscheinlich jein.
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