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Liebe Freundinnen und Freunde des guten Wortes, liebe Lyrikfans,

herzlich willkommen zu meinem neuen Projekt »Flash Fiction – 33 shortshort Storys«! Heute und in den folgenden neun Tagen geht es um Kurz- und Kürzestgeschichten bis höchstens 1.000 Wörter. Diese junge literarische Gattung stammt aus dem anglo-amerikanischen Bereich – und steht der Lyrik nahe.

Wer mag, kann die Flash-Fiction-Storys auch als kleine Lesungen genießen – beim Frühstück, während man pendelt, am Feierabend, in der Badewanne …

Viel Freude beim Lesen und Hören!
Ihr Matthias Kröner

 

e=lh2

Ich kam in die Kneipe, als Heidobert schon betrunken war. Er saß am Tresen und lallte. Manchmal schraubte er seinen Zeigefinger empor, um sich in schwankenden Sätzen gezielt zu äußern. Der Barkeeper servierte ihm noch ein Bier, und er würde ihm wohl auch Schnaps hinstellen, Rühreier braten, Zigaretten hinter der Theke andrehen, wenn ich nicht vorher eingriff.
Ich hängte meinen Mantel an die Garderobe. Der Herbst war braun gewesen. Er hatte von einem Augenblick auf den anderen an feuriger Farbe eingebüßt. Eine Woche lang waren die Blätter rot. Dann schrumpfte alles zu einer braunschwarzen Regenmasse zusammen, die die Gehwege glitschig machte und die Abwasserkanäle verstopfte. Seither war es nicht mehr sehr kalt geworden. Der Winter war nicht der Winter, den ich von früher kannte. Vor einer Woche kamen die ersten Knospen, die einen unverhofften Frost nicht überleben würden.
„Eees isst genauu umgekeehrrrt“, lallte Heidobert. „Dieieie bööösartiiggen Eechsemplare habben dass Glüückk gepachtett.“
Vor zwei Wochen war ich auf einer politischen Versammlung mit ihm gewesen. Heidobert war emeritierter Professor und brauchte Abwechslung. Langeweile war im Spiel, der Wunsch, bei einer größeren Sache dabei zu sein und ganz einfach die Überwindung einer Epoche, die uns abgenutzter erschien als die Jahrzehnte vorher. Mein Leben kam mir vor wie ein altes Kalenderblatt, das ich aus einer Trägheit heraus nicht abriss.
„Was redest du für ein Zeug?“ Und zum Barkeeper gewandt: „Wie viel hat er inzwischen intus?“
„Es dürften jetzt 17 Weizen gewesen sein.“ Ein Blick auf den Filz genügte: Die Striche ringsum wirkten wie eine schwarze Sonne, in deren Mitte ein großes Bierglas stand. Die Krone der Schöpfung war weißer Schaum.
„Wieso in aller Welt trinkst du so viele Kristall auf einmal?“
„Weegeen deer Klaaarheitt“, gab er zurück. „Das Konzept der Lie-iebe ist in der Evolution nicht vorgesehen.“
Ich bereute es, im Varieté gewesen zu sein. Sie hatten Texte von Tucholsky und Brecht gesungen. Ich bereute auch den Abend danach mit Lola. Ich hätte bei Heidobert bleiben sollen. Vielleicht, dachte ich, hat ihm der Ruhestand doch nicht gut getan. Vielleicht, dachte ich, dreht er jetzt langsam durch.
„Ich glaube“, fing er unverdrossen von vorne an, „dahass die gannze Wissssenschafft schief gewickelt isst. Jedder maant, dahass es Unglöck bringt, wehenn die Leutee schlecht übber einen reden. Das Gegenteil ist der Fall. Es gibt einem die Kraft eines Bronto-“, sein Räuspern klang wie ein Auto, das einfach nicht starten wollte, „Brontosaurus.“
Ich klopfte ihm auf die Schulter, sah hilflos den Ober an. – Es gibt das Aufgehobensein im Moment, es gibt viel viel Mangel, es gibt Tresen, es gibt Bier und es gibt Geschichten: Heidoberts waren die abstrusesten, die ich je gehört hatte.
Ich versuchte ihn zum Gehen zu überreden. Ich wollte aus dieser Kneipe. Notfalls hätte ich alle Biere allein bezahlt. Es kam mir gespenstisch vor, diesem eigentlich nüchternen Wissenschaftler, der Bücher über Atome verfasst hatte, bei solchen Überlegungen zuzuhören.
„Irgenenendwann“, sagte er, während ich den Barkeeper ausbezahlte, „werdenen wiirr diiiee physi-physchikalischen Regellen des Scheitererns kennennlerrnen. Die Rehegeln für den Errrfolg habe ich schschon verstanden-en.“ Heidobert schlug auf den Tresen; er sprach so verzerrt und langsam, dass man den Anfang mancher Sätze am Ende bereits vergessen hatte. „Es ist albbern, wie wihir uns nahch der Anerkennung der Mennschen sehnen. E=lh2“, sagte er. Er kritzelte die Formel auf seinen Bierfilz – und plötzlich sprach er ohne zu lallen weiter.
„E ist der Erfolg, der am Ende rauskommt. l steht für die Anzahl der Leute und h im Quadrat ist der Hass der Welt. Je mehr Leute dich also hassen“, sagte er, „desto mehr Erfolg hast du in deinem Leben.“
Mühsam hievte ich ihn vom Barhocker. An einer Haltestelle warteten wir auf die Tram. Es war unmöglich, seinen Ausführungen auszuweichen. Ich versuchte ihn abzulenken, begann, vom Varieté zu erzählen, von den anwesenden Damen, die auf der Bühne getanzt hatten; es war aussichtslos. Zu nichts, außer der Formel, wollte er Zugang finden. – Heute, dachte ich, kommt der Frost, den wir so lang vermisst haben.
„Alle Größen der Weltgeschichte wurden von der überwiegenden Mehrheit verachtet. Diese Tatsache hat zu einer Konsolidierung ihrer Macht beigetragen. Kannst du dich noch an die Lehrer erinnern, die uns geschlagen haben? Oder an die Mitschüler, die immer besonders fies waren?“
Zum ersten Mal schwankte ich. Die Lehrer, von denen er sprach, hatten allesamt gute Posten. Sie waren die Lieblinge des Direktors und wurden auf der Straße zuerst gegrüßt, obwohl man heimlich über sie tuschelte und ihnen die Pest an den Hals wünschte. Und wenn ich an den schlimmsten Quäler der Klasse dachte, ging es mir auch nicht besser: Er war inzwischen ein Architekt und baute mit an den neuen Warenhäusern, die überall in der Stadt aus dem Boden schossen.
„Was du fühlst“, beendete der emeritierte Physiker seinen Redeschwall, „ist nicht so wichtig für deinen Durchbruch. Heute muss man in eine ganz andere Richtung denken.“
Mit jedem Wort schien die angestaute Luft aus ihm rauszugehen. Er flüsterte wie ein kleines Kind, das Weihnachtsplätzchen aus der Küchenvitrine geklaut hatte. „Deine Mitmenschen müssen dich richtig hassen. Dann überlebst du auch große Anschläge. – Beweisen kann ich das alles nicht, aber die Geschichte wird mir im Lauf der Jahrhunderte recht geben.“
Als er endlich in seiner Wohnung war, dachte ich an die letzte Versammlung, die wir gemeinsam besucht hatten. Ein gewisser Adolf H. aus Braunau war unerwartet dazugestoßen. Dieser Kerl, dachte ich überrascht, sein ganzes Auftreten, passte perfekt ins Schema. Allerdings haben mir Freunde erzählt, dass er zweimal durch die Aufnahmeprüfung der Akademie gefallen ist.
Die Thesen des pensionierten Physikers, die ich für einen Moment geglaubt hatte, waren wirklich der größte Humbug.

 

 

P.S.: »Flash Fiction – shortshort Storys« wird von Kulturfunke* gefördert – vielen Dank dafür!

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Matthias Kröner - Grüner Weg 44 - 23909 Ratzeburg - Tel.: 0176/32331629