Hinkende Jamben
Ein Liebchen hatt’ ich, das auf einem Aug’ schielte!
Weil sie mir schön schien, schien ihr Schielen auch Schönheit.
Eins hatt’ ich, das beim Sprechen mit der Zung’ anstieß;
mir war’s kein Anstoß, stieß sie an und sprach: Liebster!
Jetzt hab’ ich eines, das auf einem Fuß hinket;
ja freilich, sprech’ ich, hinkt sie, doch sie hinkt zierlich.
Kurz eingeordnet
Klar, man kann dieses Gedicht aus der Zeit gefallen und vielleicht sogar frauenfeindlich finden! Man kann sich aber auch eine Frau vorstellen, die dasselbe über einen Mann sagt – und einfach darüber lachen. Denn nichts anderes macht die Liebe: mit uns. Sie lässt einen den geliebten Menschen durch die rosarote Brille sehen und alles toll finden – am anderen!
Rückert gelang es, dieses Phänomen in eine lyrische Form zu gießen; wie es ja meistens der Literatur gelingt, psychische Phänomene zu erkennen, bevor sie Wissenschaftler exakt beschreiben …
Dass die Schönheit immer im Auge des Betrachters liegt, wusste schon Albrecht Dürer, der jedes Löwenzahnzähnchen hübsch und akkurat in Szene gesetzt hat, doch beinahe hilflos eingestand: „Was die Schönheit sei, das weiß ich nicht.“
Ich mag es, wie Rückert hier offensichtliche Körpermängel ad absurdum führt und zeigt, wie unfassbar unwichtig das alles ist, wenn man liebt.
Wer trotzdem unbedingt mag, kann dieses Gedicht als frauen- oder gar menschenfeindlich brandmarken. Doch der oder die hat dann etwas nicht, was Rückert hatte: Selbstironie!
P.S. Schön und gut, aber was soll dieser sehr merkwürdige Titel? Begeben wir uns kurz in die Tiefen der Literatur- und Sprachwissenschaft: Mit Jambus ist ein Begriff der Metrik (= Verslehre) gemeint, bei dem eine kurze (unbetonte) auf lange (betonte) Silbe folgt. Da Rückert ein Meister der Versform war und zudem wusste, dass ein gutes Gedicht durch Inhalt und Form zur Perfektion gerät, vermischte er den Inhalt (das hinkende Liebchen) mit einer hinkenden Versform. Um alles auf die Spitze zu treiben, wählte er für die sechs Zeilen den Choljambus (auch als Hipponakteus bezeichnet), der, laut Wilhelm Hertzberg, eine „ironische Kraft“ besitze, „wie sie keinem anderen Metrum innewohnt“.
Sehr speziell, ich weiß, aber uns folgen Professoren und Wissenschaftler! Auch für sie ist dieser Newsletter gemacht …