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Liebe Freundinnen und Freunde des guten Wortes,
liebe Lyrikfans,

gestern bekam ich eine Nachricht, bei der ich kurz zusammenzuckte: "Vor Ihrer lyrischen Post muss dringend gewarnt werden" hieß es – und ich dachte: Was hab ich verwechselt oder falsch gemacht?! Dann die Auflösung: "Sie hat ein hohes Suchtpotential!" Geschrieben hat sie der hintersinnige Erlanger Schriftsteller Johannes Wilkes, dessen "Kleines Franken-Buch" (ars vivendi) mir sehr gut gefällt und bei dem natürlich auch Friedrich Rückert vorkommt.

Andere Leserinnen und Leser schrieben von einem "Highlight des Morgens" oder sogar "des Tages" und dankten "fürs Rückert-Entstauben: neu beleuchtet und immer überraschend mit Ihrer Auswahl und den Anmerkungen aus der Jetztzeit".

Auf das gestrige Gedicht, das den Vorschlag machte, doch einfach mal im Bett zu bleiben, antwortete eine Leserin schön explizit: "Ich hab‘ es mir grad ausgedruckt, zur 'Pille gegen Aktivismus' erklärt und an mein Regal gehängt. Und nein: es entspricht so gar nicht meiner Vorstellung von Depression, eher der von großer Gelassenheit und auch Einsicht in den Lauf der Welt und der eigenen Rolle darin."

Ich bin baff und freue mich, wozu der alte Rückert und diese kleinen Einordnungen doch fähig sind …
Dann machen wir mal mit Gedicht 16 weiter!

Viel Vergnügen,
Matthias Kröner

 

Hinkende Jamben

Ein Liebchen hatt’ ich, das auf einem Aug’ schielte!
Weil sie mir schön schien, schien ihr Schielen auch Schönheit.
Eins hatt’ ich, das beim Sprechen mit der Zung’ anstieß;
mir war’s kein Anstoß, stieß sie an und sprach: Liebster!
Jetzt hab’ ich eines, das auf einem Fuß hinket;
ja freilich, sprech’ ich, hinkt sie, doch sie hinkt zierlich.

 

Kurz eingeordnet

Klar, man kann dieses Gedicht aus der Zeit gefallen und vielleicht sogar frauenfeindlich finden! Man kann sich aber auch eine Frau vorstellen, die dasselbe über einen Mann sagt – und einfach darüber lachen. Denn nichts anderes macht die Liebe: mit uns. Sie lässt einen den geliebten Menschen durch die rosarote Brille sehen und alles toll finden – am anderen!
Rückert gelang es, dieses Phänomen in eine lyrische Form zu gießen; wie es ja meistens der Literatur gelingt, psychische Phänomene zu erkennen, bevor sie Wissenschaftler exakt beschreiben …
Dass die Schönheit immer im Auge des Betrachters liegt, wusste schon Albrecht Dürer, der jedes Löwenzahnzähnchen hübsch und akkurat in Szene gesetzt hat, doch beinahe hilflos eingestand: „Was die Schönheit sei, das weiß ich nicht.“
Ich mag es, wie Rückert hier offensichtliche Körpermängel ad absurdum führt und zeigt, wie unfassbar unwichtig das alles ist, wenn man liebt.
Wer trotzdem unbedingt mag, kann dieses Gedicht als frauen- oder gar menschenfeindlich brandmarken. Doch der oder die hat dann etwas nicht, was Rückert hatte: Selbstironie!

 

P.S. Schön und gut, aber was soll dieser sehr merkwürdige Titel? Begeben wir uns kurz in die Tiefen der Literatur- und Sprachwissenschaft: Mit Jambus ist ein Begriff der Metrik (= Verslehre) gemeint, bei dem eine kurze (unbetonte) auf lange (betonte) Silbe folgt. Da Rückert ein Meister der Versform war und zudem wusste, dass ein gutes Gedicht durch Inhalt und Form zur Perfektion gerät, vermischte er den Inhalt (das hinkende Liebchen) mit einer hinkenden Versform. Um alles auf die Spitze zu treiben, wählte er für die sechs Zeilen den Choljambus (auch als Hipponakteus bezeichnet), der, laut Wilhelm Hertzberg, eine „ironische Kraft“ besitze, „wie sie keinem anderen Metrum innewohnt“.
Sehr speziell, ich weiß, aber uns folgen Professoren und Wissenschaftler! Auch für sie ist dieser Newsletter gemacht …

 

 

 

 

P.S. Das Rückert-Projekt wird von der Stadt Schweinfurt, der Rückert-Gesellschaft e. V. und der Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten e. V. gefördert. Vielen Dank dafür – ohne diese Unterstützung wäre das Projekt nicht möglich!

P.P.S. Schicken Sie diesen Newsletter jederzeit an gute Freundinnen und Freunde, die Lust auf Literatur haben. Wer die Newsletter bekommen möchte, braucht mir nur eine Mailadresse zu schicken oder kann sich direkt anmelden: www.fairgefischt.de/lyrische-post.html

 

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 Rückert Gesellschaft

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