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Liebe Freundinnen und Freunde des guten Wortes, liebe Lyrikfans,

jetzt, am Sonntag, soll es eine kleine Autofiktion zu unserem Thema sein! Sie handelt von mir als 16-Jährigem, von meinem Dasein als Ministrant und wie es dazu kam, dass ich Kurt Cobain bewunderte. Aber  lesen Sie selbst!

Zuvor noch zwei Leserstimmen, die mich sehr gefreut haben. Barbara Mosig schrieb explizit zu Tag 4: »Diese Zeilen berühren mich sehr und sind ungemein tröstlich. Ich habe eben einen Screenshot davon gemacht, um so das Gedicht als Foto für mich zu haben.«
Silke Hunsche äußerte sich zum gesamten Projekt: »Gerade im Zusammenhang mit Sterben und Tod fehlen oft die Worte. Schön, dass Sie doch welche finden. Ich lese gern weiter.«

Lieben Dank. Solche Lesermails beflügeln!

Nun aber viel Freude mit der Geschichte, die im Juni auch im BR gelaufen ist, genauer: im Feiertags-Feuilleton. Wer mag, kann sie sich also auch anhören. Ab Minute 17 geht's los!

Herzliche Grüße,
Matthias Kröner

Am Limit

Als Jugendlicher ist man stets – am Limit.

Manchmal ist es die Schule, die einen wahnsinnig macht. Allen voran die Lehrerinnen und Lehrer, die immer glauben, dass ihr Fach das Wichtigste sei, doch nie berücksichtigen, dass niemand überall gleich gut sein kann. Manchmal ist es die Liebe, die einen in die Untiefen des Daseins zieht. Als jugendlicher Mann hast du oft das Problem, dass die Mädchen aus deiner Klasse auf Ältere stehen: auf 18-Jährige oder gleich auf Studenten. Und selbst wenn es einem gelingen sollte, mit seiner Angebeteten auf einer Party herumzuknutschen, hat sie es meist am nächsten Schultag vergessen.

Dann tut Musik gut. Sie fängt auf, was man nicht verarbeiten kann. Sie kanalisiert Wut und Trauer, Euphorie und Lust. Das spürte ich besonders stark bei: Nirvana.

Absurderweise lernte ich die Band bei einem Treffen der Katholischen Jugend in Oberasbach kennen. Wir hatten einen Partyraum in den Katakomben der Kirche, ein Billardtisch stand darin, es gab eine Bar und natürlich auch eine Stereoanlage mit alten Boxen. Oft liefen dort Lieder von PUR oder Reinhard Mey, sehr selten Die Toten Hosen oder Die Ärzte, doch plötzlich – offenbar gab es einen anderen DJ – hörte ich Klänge und Melodien, die keinen Umweg über meinen von Hormonen gefluteten Kopf nahmen. Sie fuhren direkt in meine Psyche.

Was bitte war das?!

Ich hörte genauer hin. Es gab ein in F-Moll gehaltenes Hauptriff und wiederholt nach vorne drängende Beats. Dann die Stimme des Sängers, schmerzverzerrt und klar. Da hatte jemand etwas zu sagen – und konnte es auch noch in Töne umwandeln. Kurz glaubte ich, in einem Paralleluniversum gelandet zu sein. Gab es in den Kellern der Kirche ein Wurmloch? War ich auf dem Weg zu einem anderen Planeten? Oder empfing mich hier unten, während die Kugeln auf dem Billardtisch aneinander klackten, die Zukunft?

Here we are now, entertain us
I
feel stupid and contagious
Here we are now, entertain us

Ich kriegte an diesem Abend nicht mehr viel mit, bat den DJ, einem Kumpel aus der Parallelklasse, den Song noch ein zweites und drittes Mal aufzulegen, was er tatsächlich tat, und wankte, als hätte ich eine Flasche Schnaps getrunken nach Hause.

Es gab kein Handy und auch kein Internet, wo ich nach anderen Liedern dieser unfassbaren Band googeln konnte. Im Radio lief nur Quatsch. Guns N’ Roses zum Beispiel. Sie waren für mich ab diesem Moment erledigt. Ihnen fehlte der Schmerz. Das Unbedingt-Etwas-Haben-Wollen, auch wenn man gar nicht genau weiß, warum. Da gab es urplötzlich eine Band, die am Limit spielte, immer am Limit.

So, wie ich mich fühlte.

Tags darauf fuhr ich nach der Schule mit dem 73er-Bus nach Nürnberg. In den Saturn. Dort konnte man Alben kaufen, CDs. Ich fragte einen der jungen Mitarbeiter – einer dieser Typen, auf den die Frauen standen, in die ich mich regelmäßig verliebte – und bekam einen Silberling in die Hand gedrückt. Ehrfurchtsvoll betrachtete ich das Cover der Nevermind. Ein Baby in einem Swimmingpool war darauf zu sehen. Es schwamm wie ein Fisch zu einer Angelrute, an deren Haken ein Dollarschein steckte. Alles klar, Nirvana war ab sofort meine Band! Und Kurt Cobain, der Sänger und Frontman, der absolute Held meiner Jugend.

Ich fuhr mit dem Album heim, als hätte ich einen geheimen Schatz gefunden, der mich lebendig machte. Die anderen Fahrgäste im Bus sahen so aus, wie ich gestern noch selbst ausgesehen hatte. Wie Gespenster. Wie Zombies. Leer. Ausgesaugt von der Wirklichkeit. Von einem Alltag, der einen oft ans Limit brachte.

In meinem Zimmer legte ich die Scheibe in meinem Discman – und hörte, hörte und hörte.

Die Woche darauf kaufte ich mir ein Poster, ein großes Schwarz-Weiß-Foto des Sängers. „I hate myself and I want to die“ stand darunter. Seltsam, aber mir gab diese traurige Aussage Kraft! Da lebte jemand, der mich verstehen konnte. Niemals hätte ich einen Selbstmordversuch unternommen. Doch fast alle Jugendlichen denken zumindest darüber nach. Weil ihre Gefühle mit ihnen Billard spielen. Weil sie sich ständig neu kennenlernen, jetzt, jetzt und jetzt, und diese Identitätsfindung immer schmerzt. Wer bin ich? Was will ich? Und warum?

Darum geht es in guter Kunst. In Songs, die einen wegschießen, wie es Drogen nicht besser können.

Tja, und dann … – Dann entdeckte ich andere Bands. Die Doors. Bob Marley. Cypress Hill und den deutschen HipHop, als noch fast niemand HipHop hörte. Meine Kumpels und ich gingen zu den Toten Hosen und auf zahlreiche Festivals. Doch wieso, denke ich heute, gingen wir eigentlich nie zu Nirvana? Waren uns die Tickets zu teuer? Oder ist die Jugend die einzige Zeit, in der man weiter- und immer weitergeht? Fast Forward. Weil man neue Idole hat und sehr schnell vergisst, dass einen diese eine Band in eine andere Wirklichkeit katapultiert hatte.

Von Kurt Cobains Tod erfuhr ich verrückterweise durch unseren Pfarrer. Ich war wieder einmal eingeteilt, als Ministrant. Ich stand auf, wenn ich aufstehen sollte, klingelte, wenn ich klingeln sollte, saß, wenn ich sitzen sollte – doch mit einemmal ging es um einen Musiker. Die Worte der Predigt schwammen an mir vorbei. Ich hob meinen Kopf aus den Sätzen – und hörte zu.

Nach dem Gottesdienst rannte ich heim und hängte mich ans Telefon. Erst mein vierter Anruf hatte Erfolg. „Ja“, sagte der DJ aus der Parallelklasse, „gestern früh stand es in der Zeitung“. Er zitierte die Schlagzeile der Nürnberger Nachrichten. „Ebenfalls in diesen dämlichen Club eingetreten.“ Der Journalist meinte den Club 27. Es ging um Künstler und Künstlerinnen, die mit 27 starben. Janis Joplin, Jim Morrison, Jimi Hendrix und jetzt eben auch Kurt Cobain.

Ich legte auf und trauerte, als hätte ich einen Freund verloren. Kurt Cobain kannte mich logischerweise nicht. Doch ich meinte ihn zu kennen. Zumindest kannte er mich. Obwohl er mich nicht kannte … Das alles war sehr verwirrend. Im Glauben geht es stets um die letzten Dinge. In dieser Musik, fand ich, war das auch so. Sie machte keine Kompromisse, und der Sänger, der tat das auch nicht.

Nach zahllosen Versuchen, ein wenig glücklicher zu werden, erschoss er sich in seiner Garage mit einer Schrotflinte.

Kurt Cobain war immer am Limit. Und womöglich ist das der Fluch von Bands und Stars, die erwachsen werden. Die Wut der Jugend kannst du nicht konservieren. Sie ist da, und wenn man Glück hat, wächst sie sich aus dem Körper und deiner Psyche raus – in ein neues Glück, das kraftvolle Entspannung und innere Ruhe möglich macht. Eine Ruhe, die weiter geht und weit reicht, über den eigenen Horizont hinaus.

Kurt Cobain fand diesem Zustand nur, wenn er Heroin nahm oder Konzerte gab. Und vielleicht, denke ich heute, liegt darin auch die Nähe zur Religion. Er nahm unsere Schmerzen auf und wandelte sie um in Songs, die wie Medikamente in unsere Körper und Köpfe tropften. Drogen aus Melodien und Wut, aus Rhythmen und Riffs, die uns heilten, wenn wir am Limit waren.

P.S.: Wer sich für die »Gedichte zu Leben und Tod« von 2023 interessiert, wird auf meiner Internetseite fündig!

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Matthias Kröner - Grüner Weg 44 - 23909 Ratzeburg - Tel.: 0176/32331629