Liebe Freundinnen und Freunde des guten Wortes,
liebe Lyrikfans,
Sie haben alle die Nachrichten gehört – ein Leser schrieb zum gestrigen Gedicht und zur gestrigen US-Wahl: "Ihre Nachricht hätte besser nicht passen können. Am heutigen Tag wird deutlich, wie wichtig es ist, Kinder frühzeitig und kindgerecht an die Themen Macht und deren Missbrauch, Demokratie und Loyalität heranzuführen. Heute müssen wir ordentlich (fast wollte ich 'mächtig' sagen) 'aufwärts gehn', um aus der Vogelperspektive weise auf das reagieren zu können, was möglicherweise kommen mag. Dass dabei das Schicksal des Einzelnen im Blick behalten werden muss, ist die große Herausforderung."
Um jetzt nicht den Kopf in den Sand zu stecken, empfehle ich Ermutigung von Wolf Biermann!
Außerdem lassen wir uns nicht beirren und machen munter mit Rückert weiter. Alles andere wäre sinnlos. Dann nämlich hätten die gewonnen, die die Etwas-weiter-Blickenden, die Suchenden, die Nicht-immer-so-Sicheren, die Zweifelnden und die, die die humanitären Werte und die Werte der Aufklärung hochhalten, mundtot machen wollen. Das wird nicht zugelassen!
Viel Vergnügen mit einem zweifelnd-kritischen Gedicht des Franken,
Matthias Kröner
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Alles triebest du zu schnelle
und kamst freilich von der Stelle,
aber besser wär’s geblieben,
hättest du’s gemach getrieben.
Lern’ es endlich langsam treiben,
langsam denken, langsam schreiben,
langsam essen, langsam trinken
und vor allem langsam leben,
dort den Schatten, die dir winken,
langsamer entgegenschweben!
Kurz eingeordnet
Friedrich Rückert hatte nicht ein Leben. Er hatte mindestens drei: als getriebener, fast schon besessener Verseschmied, als Orientalist und Professor, als zurückgezogener Familienmensch und Gärtner. Dazwischen lebte er ein freischaffendes Künstlerleben (u. a. in Italien und speziell in Rom), verließ zuvor fluchtartig Hanau, wo er eigentlich als Gymnasiallehrer arbeiten sollte, und gehörte lieber der „Tafelrunde“ des Christian Truchseß von Wetzhausen auf der Bettenburg an, wo Rückert gegen die Fremdherrschaft Napoleons anschrieb und Schriftsteller wie Heinrich Voß, Jean Paul, Friedrich de la Motte Fouqué oder Gustav Schwab kennenlernte. Er ist zeitweise literarischer Leiter des „Morgenblatts für gebildete Stände“, lernt in Stuttgart Ludwig Uhland kennen, später sogar Alexander von Humboldt (den Weltreisenden!), führt das Ghasel in die deutsche Dichtkunst ein (mit August Graf von Platen), bekommt Ehrungen noch und nöcher (leider, als seine Poesie längst out ist!) und wird mit seiner geliebten Frau Luise zehn Kinder haben (von denen nicht nur zwei, sondern auch ein drittes sterben wird, Karl Julius, drei Tage nach seiner Geburt). Dazwischen schreibt und übersetzt er, übersetzt und schreibt er. Gedichte, viele viele sehr populäre Gedichte und Theaterstücke, die allesamt floppen. Reisen unternimmt er nach München, Salzburg, Tirol und ins bayerische Alpenland, doch Friedrich bleibt ein mit Franken Verwurzelter, der vor allem seinen Geist auf die weite Weltreise der vielen Sprachen und Kulturen schickt. Dazwischen benötigt er Kuraufenthalte, um sich von psychosomatischen Leiden zu heilen; Rückert war ein Hypochonder, wie seine Frau Luise bereits 1827 schrieb – was eine Krankheit vieler Kreativer ist, sozusagen die Schattenseite der Fantasie und des Einfühlungsvermögens. Er besaß einen Hauptwohnsitz, den „Nattermannshof“ bei Coburg, und eine Dichterklause, sein „Tusculum“ auf dem Goldberg, bekam aufgrund der letzten Professur in Berlin eine großzügige Pension (die ihn aller Geldsorgen entledigte) – und musste den Tod seiner Frau Luise miterleben, achteinhalb Jahre vor seinem eigenen.
Was für ein Leben! möchte man ausrufen. Kein Wunder, dass einem da Zeilen wie diese einfallen: „Alles triebest du zu schnelle / und kamst freilich von der Stelle, / aber besser wär’s geblieben, / hättest du’s gemach getrieben“. Andererseits: Kann man es langsamer angehen, wenn man die Glut in sich fühlt? Vom Rechtsgelehrten Paul Anselm Ritter von Feuerbach, dem Vater des Philosophen Ludwig Feuerbach, weiß ich, dass er Briefe mit „Vesuvius“ unterschrieben hat. Das hätte auch gut zu Rückert gepasst!
Was sagen uns diese Verse heute noch? Sind Sie eine Anleitung zur Achtsamkeit? Ich bin mir da nicht so sicher … Doch vielleicht gelingt es uns inmitten der vielen vielen Nachrichten, die täglich – wie Regenschauer – auf uns hereinprasseln ein bisschen innezuhalten und zumindest die Dinge anzutreiben, die uns wirklich wichtig sind. Diese erst einmal herauszufinden, würde wahrscheinlich schon vieles verlangsamen …
P.S. Um es nach seinem Tod auch nicht zu langweilig werden zu lassen – oder gar zu „langsam“ –, schrieb Rückert im hohen Alter über seinen 8.000 Gedichte umfassenden Nachlass den Nachgeborenen fies-frech ins Stammbuch: „Beseitigt glaubt ihr mich und abgetan, / und was ich schuf, geh’ euch nicht weiter an; / Gott sei euch gnädig, wenn mit ihren Lasten / sich öffnen meine Nachlaßversekasten, / dann geht von vorn für euch die Arbeit an.“
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