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Liebe Freundinnen und Freunde des guten Wortes, liebe Lyrikfans,

herzlich willkommen zu meinem neuen Projekt »Flash Fiction – 33 shortshort Storys«! Heute und in den folgenden sieben Tagen geht es um Kurz- und Kürzestgeschichten bis höchstens 1.000 Wörter. Diese junge literarische Gattung stammt aus dem anglo-amerikanischen Bereich – und steht der Lyrik nahe.

Wer mag, kann die Flash-Fiction-Storys auch als kleine Lesungen genießen – beim Frühstück, während man pendelt, am Feierabend, in der Badewanne …

Viel Freude beim Lesen und Hören!
Ihr Matthias Kröner

 

Der Angler

Röttinger drosselte die Geschwindigkeit seines ICEs. Er wollte die Leute nicht durcheinanderwerfen – sie sollten von selber draufkommen.
Bevor der Zug auf gerader Strecke zum Stehen kam, telefonierte er mit dem Bahnhof München. Das Gespräch war kurz, kurz und seltsam. Röttinger entriegelte die Sicherheitstüre mit einem leisen Knall.
Vor dem Zug, direkt hinter den zweiten Gleisen, lag ein abgeerntetes Maisfeld. Die abgeschnittenen Stangen sahen wie die Nägel eines Fakirbretts aus, sie stießen durch die gefrorene Erde. Röttinger stieg vom Zug. Mit dem ersten Schritt hörte der Druck in den Schläfen auf. Seine Schuhe fühlten sich ungewohnt leicht an. Es war beinahe etwas angsteinflößend. Er marschierte über das Maisfeld und scherte sich nicht um die Eisklumpen, die im Profil seiner Sohlen stecken blieben.
Als er den Rand eines kleinen Wäldchens erreicht hatte, drehte er sich herum. Der Zug sah verloren aus, er wirkte albern in dieser kargen Landschaft. Röttinger nahm eine Schachtel Zigaretten aus seiner Jacke und warf sie weg. Er hatte die Heizung eingeschaltet. Nichts sprach gegen den Spaziergang.

Nach dem Wäldchen, das voll von Dickicht und umgeworfenen Bäumen war, durchquerte er noch ein Feld. In die Ebene zu blicken war grandios. Bis auf die Strommasten und einem Hochstand war die Zivilisation verschwunden. Hier herrschte die klare Luft; die Wälder und Äcker sahen nicht danach aus, als würden sie sich eine neue Umgebung wünschen. Sie gehörten genau hierher.
Der Weg an der Waldgrenze führte zu einer Lichtung, an deren hinterer Seite ein kleiner Weiher lag. Röttinger erschrak, als er den Angler sah. Dann stiefelte er schnurstracks auf den Menschen zu. Neben einem Klappstuhl, in dem der Angler in wasserabweisender, grüner Kleidung saß, lag ein Käscher vor zwei halbvollen Wasserwannen. An der rechten Lehne hing eine schwarze Tasche.
Röttinger näherte sich dem Angler. Der saß einfach nur da und beobachtete das Wasser. Der Schwimmer schlug leichte Wellen, die nach wenigen Bewegungen im Nichts verliefen.
„So früh am Angeln?“
Der Angler drehte sich rasch herum. Er hatte ihn gar nicht kommen hören. „Können Sie sich vorstellen, warum ich hier bin?“
Röttinger schüttelte seinen Kopf.
„Damit ich in Ruhe gelassen werde.“
„Haben Sie keinen Hund?“
Der Angler drehte sich wieder dem Weiher zu. Die weiße Wolkendecke spiegelte sich im Blau.
„Ich muss nämlich in zehn Minuten in München sein. Und mit einem Hund würde ich leichter zum Zug zurückfinden.“
Der Angler holte den Schwimmer ein. Er nahm einige Körner Mais aus der Tasche und warf sie mit einer Handbewegung ins Wasser. Dann stieß er ein neues Korn über den Haken und holte weit mit der Angel aus.
Röttinger verfluchte sich, weil er seine Zigaretten zerknüllt hatte. Es wäre schön gewesen, mit dem Angler zu rauchen, sich über das Fischen zu unterhalten, über den Augenblick, wenn ein Karpfen anbeißt.
Gleichzeitig musste er jetzt zurück. Ohne sich zu verabschieden, ging er wieder zur Waldgrenze. Mit jedem Schritt gehörte ihm diese Landschaft mehr. Bald würde er alle Maisfelder und Äcker, alle Wälder und auch den Hochstand, ja selbst die klare Luft und die Strommasten besitzen. Indem er einfach darüber lief.
Röttinger nahm den gleichen Weg wie zuvor.
Vor dem Zug hatten sich Grüppchen gebildet. Sie sollten mir danken, dachte er, und sie tun es auch, indem sie über mich herziehen. Ihr Leben wäre langweilig ohne mich.
Röttinger nickte der ersten Gruppe zu und stieg in die Fahrerkabine, bevor irgendwer reagieren konnte. Die Türe schloss er mit einem leisen Knall. Im Seitenspiegel sah er die Menschen, die in den Zug zurückströmten. Die meisten trugen Krawatten, viele warfen ihre halbfertig gerauchten Zigaretten weg.

Röttinger kam mit 55-minütiger Verspätung fahrplanmäßig in München an. Auf dem Bahnsteig empfing ihn ein Komitee. Zwei bullige Bahnbedienstete, beide in blauer Arbeitskleidung und roter Krawatte, eskortierten ihn in das Büro des Vorstehers. Sie fragten nichts, während die anderen Fahrgäste um ihn herumströmten und lauthals schimpften.
Keine Minute ließ der Vorsteher auf sich warten. Röttinger kam sich vor wie in einer vorsintflutlichen Praxis. Sein Name knisterte durch den Laptop einer Sekretärin. Sie verfolgte ihn mit den Augen, bis er die Klinke der Türe drückte.
Das Büro war verzweifelt klein. Röttinger setzte sich dem Vorsteher gegenüber in einen breiten Sessel. Er fürchtete sich vor nichts. Der Vorsteher kramte in einer Akte.
„Ist das meine?“
Sein Vorgesetzter blitzte ihn wütend an. „Haben Sie sich irgendetwas dabei gedacht?“
Durch zwei winzige Fenster neben dem Schreibtisch sah man die Vorderhalle des Sackbahnhofs. Röttinger blickte auf einen Asia-Imbiss. „Gebackener Reis mit Gemüse“, flüsterte er – und dann zum Vorsteher gewandt: „Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mir schnell ein Reisgericht kaufe?“
Der Vorsteher tobte. Er zeterte vor dem Schreibtisch. Seine Hände kritzelten eine nervöse Schrift in den abgestandenen Mief des Zimmers. Hinter den Scheiben, da war das Leben. Röttinger schmunzelte über die Leute, die hin- und herrannten. Jeder besaß einen Auftrag, den er erfüllen wollte. Die Getränkeverkäufer machten das Geschäft ihres Lebens. Kaffeeautomaten sprudelten um die Wette. Röttinger lächelte nicht verächtlich.
„Haben Sie niemals daran gedacht …?“ Dann brach er ab. Was sollte er mit dem Vorsteher reden?
„Die ganzen Züge“, schimpfte sein Vorgesetzter, „haben wegen Ihnen Verspätung! Alle kommen zu spät zur Arbeit!“
Röttinger sehnte sich jetzt wirklich nach etwas Essbarem. Der Spaziergang hatte ihm Appetit gemacht.
Er erhob sich und verließ den Raum, während der ICE, wie Röttinger aus einem Augenwinkel erkannte, in unnachahmlicher Gleichgültigkeit weiterfuhr.

 

 

P.S.: »Flash Fiction – shortshort Storys« wird von Kulturfunke* gefördert – vielen Dank dafür!

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Matthias Kröner - Grüner Weg 44 - 23909 Ratzeburg - Tel.: 0176/32331629