Liebe Freundinnen und Freunde des guten Wortes, liebe Lyrikfans,
der Tod ist der große Unbekannte. Obwohl wir jede Nacht üben – und der Schlaf uns in Weiten trägt, die wir nicht erfassen –, fürchten wir uns: vor der Endlichkeit.
Die 16 Gedichte und Geschichten zu Leben und Tod versuchen das genaue Gegenteil. Vom 7. bis 22. Oktober begleiten sie das Festival der Endlichkeit – Moin Tod! Es wird organisiert und ausgerichtet vom Palliativnetz Travebogen.
Es geht darum, das Tabuthema Tod als natürlichen Teil des Lebens zu sehen.
Wenn Sie mögen, schreiben Sie mir und lassen Sie mich an Ihren Erkenntnissen und Gedanken teilhaben.
Denn gerade zu diesem Thema ist ein Austausch sicherlich spannend und wertvoll.
Herzliche Grüße,
Matthias Kröner
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Tag 5
Altes Café am Ortsrand
In einem alten Café am Ortsrand von unserm Dorf saß immer ein alter Mann. Seine rechte Hand zitterte. Parkinson, dachte ich damals, oder einfach nur ein nervöser Tick? Schnell mit den Fingern zeigte er uns Jungs jeden Kartentrick.
Wir mussten ihm nur versprechen, wenn wir sie abzogen, die Großen, davon zu erzählen. Er konnte niemanden quälen mit seinen Geschichten, die er fast in Gedichten herunterhieb. Es war ein Zwang, der ihn trieb, und wir fuhren mit ihm in den Krieg und nach Alaska und um die halbe Welt, verloren im Casino sein ganzes Geld und Frauen, kämpften in Portugal gegen die Diktatur, ließen uns in Bangkok von Nutten verhauen, leisteten in Afrika einen Schwur auf die reiche Beute und schlugen uns dann auf die Seite der kleinen Leute. In Flandern stand ein Baron wegen uns unter Schock, weil wir ihm seine Tochter ausspannten, ganze Landstriche brannten wegen uns aus, doch wir kamen immer mit heiler Haut wieder raus.
Und dann, dann lehnte er sich zurück und man dachte zuerst, der pennt. Doch er hörte nur zu und wir erzählten von unserm Gut, das wir ergaunern konnten durch seine Tricks. Und klar, wir stellten ihm auch die ganz alten Fragen: Was ist der Sinn von den schlechten Tagen? Was wird noch kommen? Und: Bin ich der, der ich wirklich bin?
Doch auf diesem Ohr war er taub. Nur ein einziges Mal wurde ihm unser Gelaber zu bunt. Er knurrte wie ein andalusischer Kettenhund: Das ganze Leben, sagte er, ist ein Kampf gegen Schwerkraft und Staub.
Und als er starb und als wir erfuhren, dass er die Stadt nie verlassen hat, war es kein Schock für uns. Zwei Ministranten und ein ganzes Dorf erklärten ihn geschlossen für dumm. Sie nahmen ihm seine Geschichten krumm, die er doch niemals erlebt haben kann. Wir aber liebten den alten Mann, mehr noch als unsre Eltern und unsre Verwandten. Gerade weil sie es nicht verstanden.
Gegen dich, altes Straßencafé, alter Mann, gegen dich kam einfach keiner an.
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P.S.: »Gedichte zu Leben und Tod« wird von Palliativnetz Travebogen gefördert – vielen Dank dafür!
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