Je höher du wirst aufwärts gehn,
dein Blick wird immer allgemeiner;
stets einen größern Teil wirst du vom Ganzen sehn,
doch alles Einzle immer kleiner.
Kurz eingeordnet
Von Rückerts Kindheit war noch gar nicht die Rede. Dieser Vierzeiler, der das fortschreitende Leben, aber auch die sich verändernde Lebenserfahrung zum Thema hat, lädt dazu ein.
Am 16. Mai 1788 wird Friedrich Rückert in der Freien Reichsstadt Schweinfurt geboren, die ihren Status nach den französischen Angriffskriegen (1792) im Zuge der Französischen Revolution (1789) bald verliert. Sein Vater Johann Adam Rückert ist ein Jurist bei Hofe, seine Mutter Maria Barbara, geborene Schoppach, eine Juristentochter, die einem Schweinfurter Patriziergeschlecht entstammt. Doch nicht die Jurisprudenz (= Rechtswissenschaft) prägt Rückert, der das Gymnasium in Schweinfurt am 4. Oktober 1805 mit sehr guten Abschlussnoten verlässt, um sich im November an der Universität Würzburg einzuschreiben: als Jurastudent, wie es die Familiensitte wollte … Viel wichtiger und wegweisender sind für den jungen Friedrich die Kurse in „Griechischer Mythologie“, „Naturphilosophie“ und später – ganz konkret – in „Metrik“. Prägend werden auch die Philosophen Johann Gottfried Herder und Johann Gottlieb Fichte. In einer Zeit, da Deutschland, das „Heilige Römische Reich Deutscher Nation“, in mehr als 300 (!) Einzelstaaten aufgegliedert ist, bleibt die einzige gemeinsame Verbindung: die Sprache. Während Herder anderen Kulturen eine hohe Wertschätzung entgegenbringt, sieht Fichte eine klare Überlegenheit des deutschen Volkes und seiner Sprache … Kein Wunder, was 1914 und 1939 daraus erwuchs!
Obgleich Rückert „das Deutsche“ (was auch immer das ist) sehr hoch gehalten hat, war sein Interesse und seine Neugier gegenüber neuen Sprachwelten extrem groß, weshalb er nie im Nationalistischem hängenblieb. Er wollte weiterkommen. Er wollte die Welt und das Leben begreifen, indem er sein Wissen vermehrte und seinen Horizont weitete.
Was hat das alles mit diesem Vierzeiler zu tun? Der Schriftsteller und Gelehrte greift darin ein grundlegendes Problem der Wissensanhäufung auf. Je höher wir steigen, desto stärker schauen wir aus der Meta-Ebene auf das Erlernte herab – dadurch begreifen wir mehr, „doch alles Einzle“ (also Einzelne) wird „immer kleiner“. Wer sich dessen bewusst ist, hat kein Problem damit und kann gegensteuern.
Doch noch etwas anderes sagen diese vier Verse! Sie zeigen das Dilemma der Herrscher und Diktatoren. Diese sehen nur noch „das große Ganze“, das ja letztlich immer unmenschlich bleibt. Weil der Mensch darin keine Rolle mehr spielt. Es geht um eine Idee, eine unbedingt zu erfüllende Vision. Alexander der Große war davon „erfüllt“, genauso wie Hitler. Stalin wie Napoleon. Heute ist es Putin.
Dabei kam doch im Geburtsjahr von Friedrich Rückert ein ganz anderes Werk heraus: Kants „Kritik der praktischen Vernunft“ (1788). Darin ein Satz, der bis heute gültig ist – für uns alle! „Handele so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“
Würden wir uns wirklich daran halten, die Welt wäre eine schönere.