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Liebe Freundinnen und Freunde des guten Wortes, liebe Lyrikfans,

herzlich willkommen zu meinem neuen Projekt »Flash Fiction – 33 shortshort Storys«! Heute und in den folgenden 14 Tagen geht es um Kurz- und Kürzestgeschichten bis höchstens 1.000 Wörter. Diese junge literarische Gattung stammt aus dem anglo-amerikanischen Bereich – und steht der Lyrik nahe.

Wer mag, kann die Flash-Fiction-Storys auch als kleine Lesungen genießen – beim Frühstück, während man pendelt, am Feierabend, in der Badewanne … Außerdem suche ich für Ausgabe 22 noch eine Flash-Fiction-Geschichte von Ihnen, die ich mit 50 Euro honorieren werde.

Viel Freude beim Lesen und Hören!
Ihr Matthias Kröner

 

Wespen

Es ging ganz leicht. Die Bäume zeigten bereits erste Auflösungserscheinungen; es war Ende August, und die Wespen kämpften ums Überleben. Er fing sie in einem mit Watte und Küchenpapier ausgepolsterten Marmeladenglas.
Die größere Schwierigkeit bestand darin, die sich in Panik befindenden Insekten, die wild und sehr laut herumsummten, zu verstecken. Er schlug das unbenutzte Badehandtuch ums Glas und packte es in den Rucksack.

Vier Jahre hintereinander war seine Idee gescheitert. Das letzte Mal schwärmten die Wespen aus. Überallhin, nur nicht zu Ron.
Vor drei Jahren war das Wetter zu schlecht gewesen. Ron und er verbrachten nur zwei Tage am See, unterbrochen von derben Regenschauern. Am letzten Tag blieben die Tiere fern; nur eine schaffte es in sein Glas.
Ein anderes Mal traute er sich nicht, das Marmeladenglas aufzuschrauben, weil sich Ron immer wieder im Wasser umdrehte und ihn, Justus, in den See hineinwinkte. Justus gab auf – und ging baden.
Dann wieder hatte sich Ron nicht eingecremt. Justus hatte die Sonnenmilch extra mit einem Pheromon versetzt, das er nach aufwendigen Recherchen selbst herstellte. Er musste unweigerlich an die Attentate auf Hitler denken. Immer kam was dazwischen.

Diesmal versuchte er es – mit Gelassenheit. Sie frühstückten zusammen, lasen, diskutierten die Weltpolitik, maßen sich im Schach und beschlossen, zum See zu fahren. Während der zehnminütigen Fahrradstrecke musste er an Sabrina denken. Sie war eine dieser verwegenen Schönheiten, bei denen man unweigerlich an Sex denkt, vielleicht weil sie eine düstere Seite ausstrahlen. Sie schliefen miteinander, als läge die Welt in Trümmern. Zwei Satellitenstaaten, die zu ihrem Planeten funkten. Sie blieben zwei Monate zusammen. Zwei Monate, in denen Sabrina mit Ron und mit ihm zusammen war. Nebenbei sagte sie ihm, dass Schluss sei; es wäre ihm auch egal gewesen, wenn er sie hätte teilen müssen. Doch das wollte Sabrina nicht. Sabrina wollte zu Ron.
Vier Nächte lang fand er keinen Schlaf. In der zweiten Nacht trieb er sich durch die Stadt, bis vier Uhr früh. Justus betrank sich, er sprach mit Menschen, die er sonst nie beachtete, er schoss mit einer geliehenen Pistole von einer Brücke auf einen Kajakfahrer (den er bewusst verfehlte), er sprang auf die Gleise, als die Lautsprecher einen durchfahrenden ICE ankündigten, doch floh, bevor der Zug wirklich nahe war.
Trotzdem blieben sie alle Freunde. Weil Justus das wollte. Die Schwäche des besten Jugendfreunds, die kennt man; und in der Mitte des Sees nützt ein zur Badestelle zuverlässig mitgeschlepptes Notfallset herzlich wenig.

„Du sagst ja nichts. Ist alles okay?“
Sie breiteten die zwei Decken aus. Die Stelle, versteckt hinter Sträuchern und Büschen, war ideal. Ein verlassener See irgendwo in Mecklenburg-Nirgendwo. Kein Ruderboot mit Anglern, die ihm zu Hilfe eilten.
„Hey, ich rede mit dir!“
Ron sah ihn an. „Sabrina hat mich verlassen.“
„Was?!“
„Sie hat seit zwei Wochen einen anderen.“
Sie packten weiter ihr Badezeug aus.
„Wieso hast du nichts gesagt?“
„Weil es mir recht geschieht. Weil ich dir deine Freundin ausgespannt habe.“
Ron setzte sich auf die Strandmatte. „Vielleicht konnte ich deshalb die Zeit mit ihr nie so ganz genießen. Trotzdem will ich sie wiederhaben. Verstehst du?“
Das Marmeladenglas, dachte Justus, bleibt zu. „Wie heißt denn der Typ?“
Justus erfuhr einen Namen, der ihm nichts sagte. Ein Arbeitskollege von Ron, eher schweigsam. „Einer dieser Idioten aus der IT-Abteilung.“
Ron erhob sich, stand unschlüssig an der Uferlinie und lief dann in den See hinein.
„Warte mal! Hast du dir je überlegt, dass dich auch auf dem Wasser eine Wespe stechen kann? Da kann dir niemand helfen.“
„Scheiße, nein!“ Nach einer kurzen Pause. „Wie kommst du darauf?“
„Weil ich gestern da drin …“ Justus deutete auf den See. „… mit einer Bremse zu kämpfen hatte. Als du den Sixpack besorgt hast. Sie ließ nicht locker, obwohl ich vor ihr weggetaucht bin. Sie kam immer wieder. Zuletzt hatte ich sie im Mund. Dann konnte ich sie ins Wasser spucken.“
Ron nickte und stopfte den eingeschweißten Tablettenstreifen in seine Badehose. Bevor er losschwamm, drehte er sich noch um. „Danke.“
Justus warf das mit Wespen gefüllte Glas in die Sträucher neben sich. „Warte, ich komm mit rein! Erzähl mir mal näher von dem Idioten!“
Das könnte der Neubeginn einer wunderbaren Freundschaft sein, dachte er.

 

 

P.S.: »Flash Fiction – shortshort Storys« wird von Kulturfunke* gefördert – vielen Dank dafür!

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Matthias Kröner - Grüner Weg 44 - 23909 Ratzeburg - Tel.: 0176/32331629