Chidher
Chidher, der ewig junge, sprach:
Ich fuhr an einer Stadt vorbei,
ein Mann im Garten Früchte brach;
ich fragte, seit wann die Stadt hier sei?
Er sprach, und pflückte die Früchte fort:
Die Stadt steht ewig an diesem Ort
und wird so stehen ewig fort.
Und aber nach fünfhundert Jahren
kam ich desselbigen Wegs gefahren.
Da fand ich keine Spur der Stadt;
ein einsamer Schäfer blies die Schalmei,
die Herde weidete Laub und Blatt;
ich fragte: Wie lang ist die Stadt vorbei?
Er sprach, und blies auf dem Rohre fort:
Das eine wächst, wenn das andre dorrt;
das ist mein ewiger Weideort.
Und aber nach fünfhundert Jahren
kam ich desselbigen Wegs gefahren.
Da fand ich ein Meer, das Wellen schlug,
ein Schiffer warf die Netze frei;
und als er ruhte vom schweren Zug,
fragt ich, seit wann das Meer hier sei?
Er sprach und lachte meinem Wort:
Solang als schäumen die Wellen dort,
fischt man und fischt man in diesem Port.
Und aber nach fünfhundert Jahren
kam ich desselbigen Wegs gefahren.
Da fand ich einen waldigen Raum
und einen Mann in der Siedelei,
er fällte mit der Axt den Baum;
ich fragte, wie alt der Wald hier sei?
Er sprach: Der Wald ist ein ewiger Hort;
schon ewig wohn’ ich an diesem Ort,
und ewig wachsen die Bäum’ hier fort.
Und aber nach fünfhundert Jahren
kam ich desselbigen Wegs gefahren.
Da fand ich eine Stadt, und laut
erschallte der Markt vom Volksgeschrei.
Ich fragte: Seit wann ist die Stadt erbaut?
Wohin ist Wald und Meer und Schalmei?
Sie schrien, und hörten nicht mein Wort:
So ging es ewig an diesem Ort
und wird so gehen ewig fort.
Und aber nach fünfhundert Jahren
will ich desselbigen Weges fahren.
Kurz eingeordnet
Auch dafür ist Dichtung da – um Erkenntnisse zu vermitteln, die weit über das eigene Leben hinausragen! Dieser Anspruch gelingt Friedrich Rückert mit der Ballade über den unsterblichen und unsteten Wanderer al-Chidr (oder Chidher, wie Rückert ihn nennt) ganz hervorragend.
Steigen wir ein in die Deutung! Das fünfstrophische Erzählgedicht mit seinem wiederkehrenden Refrain, der erst im letzten Vers variiert, handelt von einem islamischen Heiligen (oder Propheten), der denselben Ort immer wieder bereist – in einem Abstand von fünf Jahrhunderten. Die jeweiligen Bewohner sind von der Dauerhaftigkeit ihrer Stätte überzeugt und lachen Chidher sogar aus. Sie alle „wissen“, dass der Ort immer eine Stadt, eine Weidefläche, ein Meer, ein Wald und zuletzt erneut eine Stadt bleiben wird. Nur wir sehen, wie sehr sie irren …
Diese philosophische Sicht ist freilich keine Uridee von Rückert. Sie geht auf die Vorsokratiker zurück, genauer: auf Heraklit von Ephesos (um 520 v. Chr. bis ca. 460 v. Chr.), der den steten Wandel und das ständige Werden begründet hat. Die gängige Formel „Panta rhei“ (= „Alles fließt“) stammt vom Neuplatoniker Simplikios von Kilikien (um 480 v. Chr. bis ca. 560 v. Chr.) – und wird Heraklit fälsch zugeschrieben.
Wie auch immer! Was wir definitiv wissen: wann dieses Erzählgedicht erschienen ist, nämlich 1824. Es kam im „Morgenblatt für gebildete Stände“ heraus, dem wichtigsten Unterhaltungsorgan der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Rückert selbst hat von 1815 bis 1817 das poetische Ressort der sehr beliebten Zeitschrift geleitet.