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Liebe Freundinnen und Freunde des guten Wortes, liebe Lyrikfans,

herzlich willkommen zu meinem neuen Projekt »Flash Fiction – 33 shortshort Storys«! Heute und in den folgenden 26 Tagen geht es um Kurz- und Kürzestgeschichten bis höchstens 1.000 Wörter. Diese junge literarische Gattung stammt aus dem anglo-amerikanischen Bereich – und steht der Lyrik nahe.

Wer mag, kann die Flash-Fiction-Storys auch als kleine Lesungen genießen – beim Frühstück, während man pendelt, am Feierabend, in der Badewanne … Außerdem suche ich für Ausgabe 11 und Ausgabe 22 zwei Flash-Fiction-Geschichten von Ihnen, die ich mit 50 Euro honorieren werde.

Viel Freude beim Lesen und Hören!
Ihr Matthias Kröner

 

Ohrenschützer

Die Polizeiwache lag hinter zwei großen Hochhäusern, die die Stadt als Emblem an ihren Eingang gestellt hatte. Rechts dahinter, wie in eine Ecke geparkt, in einer Flucht zwischen zwei Seitenstraßen, saß das Gebäude. Ich sah durch die schlecht geputzten Scheiben des Streifenwagens, wie über dem langgezogenen Flachdach die Sonne hochkroch. Ein Anblick, der mich beruhigt hätte, wenn nicht im selben Augenblick zwei Eilmeldungen hereingekommen wären.
Die eine von Thorben per Smartphone, Nasennebenhöhlenvereiterung. Die zweite erreichte mich über den Polizeifunk. Ich tippte aufs Display im Wagen. „Ich übernehme“, sagte ich. „Allerdings ist der Kollege krank.“
„Wissen wir“, kam die Antwort. Ich konnte nicht zuordnen, ob Marga oder Julanda Dienst hatte. „Verdächtige Bewegungen in einem Haus am Stadtrand.“ Sie nannte eine Adresse, die ich nicht kannte. „Reine Routine“, sagte sie, und wie sie es sagte, meinte ich, dass es Julanda war. Es klang immer ein wenig bedrohlich, wenn sie einen Auftrag erteilte. Seit der Silvesterfeier hatten wir eine lockere Sache am Laufen.

Ich stellte das Navi ein. Es errechnete, wie lange und laut das Blaulicht blinken durfte. Wenn wir eines in den letzten Jahren gelernt hatten: Nur Überraschungsangriffe führten zur Eindämmung der musikalischen Übertreibung, wie es im juristischen Amtsdeutsch hieß. Bei einer der letzten Großrazzien hatten wir mehrere Tonnen an E-Gitarren, Keyboards und Mischpulten beschlagnahmt.
Im Radio liefen Gedichte. Einige verstand ich nicht. Doch darüber machte ich mir keine Gedanken. Andere trafen mich, wie einen Worte treffen konnten. Sie tun das zielgerichtet, und sie zielen in den Kopf und erst dann ins Herz. Dieser Umweg war wichtig. Alles andere führte zu unkontrollierbaren Zuständen, zu Chaos in einem selbst.

Die Siedlung, die vor einer der wenigen Waldflächen lag, kam mir trostlos vor. Reihenhäuser, Garagen, schlechter Zustand der Straßen. Thorben hatte davon erzählt, erinnerte ich mich, während ich abseits den Wagen parkte und ausstieg. Es war so etwas wie ein geschützter Raum, weil er fünfundfünfzig Minuten von der Wache entfernt lag. Die Stadt ist uns wichtiger als das Land, hatte der Polizeipräsident verkündet. Trotzdem durften wir das Land nicht vernachlässigen.
Ich sah keine Kinder, was mir verdächtig vorkam. Ich sah niemanden, obwohl es ein Feiertag war, Karfreitag 2049. Die 37 unterschied sich nicht von den anderen Häusern. Je näher ich kam, desto stärker fühlte ich mich in einer Geisterstadt.
Ich sehnte mich nach Thorben, den ich nicht immer leiden konnte. Seine behäbige und manchmal moralische Art nervte mich. Er wusste nichts von meiner Affäre, und er hätte sie, gleichgültig wie es gerade stand, nicht gutgeheißen. Jetzt wäre mir seine Sicht der Dinge zupassgekommen. Zweimal, seit wir gemeinsam auf Streife gingen und uns der Polizeifunk in entlegene Winkel der Metropole trieb, riet er bereits zum Rückzug. Beide Male hatte er Recht gehabt. Wir wären zermalmt worden von den Melodien, die einen nicht mehr loslassen. – Es gab Lieder, die einen in den Selbstmord trieben. Dazu brachten, seine Familie zu verlassen. Oder, noch schlimmer, Attentate zu verüben. Noten senkten sich in einem hinab, wie in Abgründe. Doch den Noten passierte nichts. Sie hatten an ihren Fahnen Fallschirme.

Ich klingelte. Nichts. Ich klingelte wieder.
Da bemerkte ich, dass die Tür angelehnt war. Das mag ich an Kriminellen, dachte ich. Dass sie immer Fehler machen!
Ich kam in ein Treppenhaus. Eine Katze huschte an mir vorüber. Eine Treppe führte hinab in den Keller. Ich folgte meiner Intuition, die sich aus Erfahrung und Glück speiste. Später dachte ich: Wäre ich nur wieder gegangen, doch du lebst dein Leben ja nicht im Später. Du lebst es im Augenblick. Alles ist immer neu.
Ich hörte die Melodien, als ich einen mit spärlichem Neonlicht beleuchteten Gang entlanglief. Man sah hinter den Abdeckungen der Röhren die Fliegenleichen, die sich dort drin gesammelt hatten. Eine der Lichtquellen mühte sich fürchterlich damit ab, endlich anzugehen. Sie flackerte, flackerte und ging aus. Immer wieder.
Ich platzte in eine Versammlung, wie ich sie nie gesehen hatte. Kinder waren da, alte Leute, ein Orchester aus sieben Musikern, viele Frauen, Männer in meinem Alter. Es waren sicherlich siebzig Menschen. Sie spielten weiter, als sie mich sahen, und ich weiß noch, wie mir Tränen in die Augen traten. Sie kippten aus den Rändern heraus. Ich konnte nichts mehr sagen.
Thorben, dachte ich kurz. Ich brauch dich. Da sah ich die Babys, die in einem hinteren Teil des Raumes lagen. Mehr als zehn waren es sicher. Babys auf Decken, die zuhörten und mit ihren Fingern spielten. Sie gaben glucksende Laute von sich.
„Bitte“, sagte einer der älteren Männer. „Kommen Sie! Kommen Sie …“ Er zog mich in den graugestrichenen, leicht heruntergekommenen Raum hinein. An den Wänden hingen vergilbte Bandplakate. Manche der Musiker kannte ich, auch wenn ich ihre Songs nie gehört hatte. Die Doors. Leonard Cohen. Tom Waits.
„Das ist Mozart“, flüsterte der Mann. „Setzen Sie sich zu uns und hören Sie!“ Er hatte tief eingegrabene Falten und lächelte. Erst jetzt bemerkte ich, wie hier alle lächelten. Ich vergaß, was ich immer tat, wenn ich unter Menschen bin: sie einzuteilen nach Gewinnern und nach Verlierern. Ich fand sie alle schön; ausnahmslos.
Ich lauschte und mir entfiel, dass es das gab: einen Polizisten, einen Hüter des Gesetzes. Einen, der die Abläufe des Tages in die richtige Richtung lenkt.

„So, genug jetzt!“
Die Musik verstummte abrupt. Der Polizeipräsident stand im Raum. Hinter ihm liefen Julanda und Thorben. Julanda winkte mir zu.
Der Polizeipräsident drehte sich zu ihr um. „Sie hatten Recht“, sagte er und nickte. „Respekt, Sie hatten wirklich Recht! Wir brauchen ab sofort Ohrenschützer. Für alle Beamten.“
Er machte eine dramatische Pause. „Meine Damen, die Herren, packen Sie bitte ein! Jetzt, nachdem wir wieder einmal etwas genossen haben, was nur wenige Ohren aushalten. – Herr Grashopper“, wandte er sich an mich. „Sie bleiben bitte! Keine Sorge, Sie haben nichts zu befürchten. Ich brauch Ihre Aussagen fürs Protokoll.“
Ich wischte mir schnell die Tränen weg, setzte mich kerzengerade hin, griff reflexartig nach meiner Waffe und nickte.

 

 

P.S.: »Flash Fiction – shortshort Storys« wird von Kulturfunke* gefördert – vielen Dank dafür!

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Matthias Kröner - Grüner Weg 44 - 23909 Ratzeburg - Tel.: 0176/32331629