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Liebe Freundinnen und Freunde des guten Wortes, liebe Lyrikfans,

herzlich willkommen zu meinem neuen Projekt »Flash Fiction – 33 shortshort Storys«! Heute und in den folgenden zwei Tagen geht es um Kurz- und Kürzestgeschichten bis höchstens 1.000 Wörter. Diese junge literarische Gattung stammt aus dem anglo-amerikanischen Bereich – und steht der Lyrik nahe.

Wer mag, kann die Flash-Fiction-Storys auch als kleine Lesungen genießen – beim Frühstück, während man pendelt, am Feierabend, in der Badewanne …

Viel Freude beim Lesen und Hören!
Ihr Matthias Kröner

 

Der neue Nachbar

In letzter Zeit muss ich häufig an Gregor denken.
Es hängt mit unserem neuen Nachbarn zusammen, der Gregor ähnlich sieht. Seine Frau hat ihn verlassen. Man sieht ihm die Trauer an. In seinem Gesicht sind Furchen, die da nicht hingehören und vielleicht ist es das, was mich an Gregor denken lässt. Gregor hatte diese Furchen bereits mit vierzehn.
Der Sommer ist heiß. Ich sitze mit meiner Frau auf der Terrasse unseres kleinen Hauses. Wir reden nicht viel, wir warten. Morgen müssen wir wieder zur Arbeit, doch heute sitzen wir auf der Terrasse und hoffen, dass sich das Sommergewitter entlädt. Es wird ein Gewitter geben. Die Luft ist aufgeladen, es riecht danach. Es kommt niemand um das Gewitter herum. Und die wenigsten wollen darum herumkommen, denn es macht den Kopf frei für anderes. –
Susanne liest eine Zeitschrift. Ich schaue mir den Garten des neuen Nachbarn an. Viel hat er nicht gemacht. Die Hecke gehört geschnitten, das Gras gemäht. Oft sitzt er nach Feierabend auf seiner Terrasse mit einer Dose Bier. Wir prosten uns zu, wenn ich irgendwann von der Arbeit heimkomme. Manchmal gehen wir auch an den Zaun und reden, wie es von guten Nachbarn erwartet wird, von Menschen, die sich nicht in die Haare bekommen wollen.
Hermann Frank ist freundlich. Warum ihn seine Frau verlassen hat, hat er mir nie gesagt. Er erzählt von seinem letzten Beruf als Tischler. Er hatte sich selbstständig gemacht. Dann blieben die Kunden weg, und er musste zumachen. Keine besonders originelle Geschichte, aber Hermann erzählt sie ehrlich.
Ich zerdrücke die Bierdose und hole mir eine neue. Es ist so ein Tag. Man trinkt, und man spürt es nicht. Hermann geht ebenfalls in sein Haus. Fast zeitgleich kommen wir mit dem Bier zurück. Wir bemerken es, freuen uns darüber und prosten uns aus der Ferne zu. Manchmal wünsche ich mir, dass es immer so weitergeht. Meine Frau und ich auf der Terrasse. Ein Gewitter, das aufziehen wird. Kaltes Bier und der neue Nachbar.
Susanne legt die Zeitschrift auf den Boden und macht die Augen zu. Es ist eine Gartenzeitschrift. Sie hat ein Kreuzworträtsel gelöst, genau wie vor einem Monat, als es den neuen Nachbarn noch nicht gegeben hat. Daran erinnere ich mich, weil ich den Brief zur Post brachte und um das Datum des Stempels feilschte. Erwartet haben wir nichts. Man kennt das ja: die sammeln die Adressen, zu den Gewinnern gehört man nie. Zwei Tage später hat uns ein Gutschein für ein Lokal in der Stadt erreicht, für eine Restaurantkette, deren Aufstieg in der Zeitschrift stand.
Ich blicke über Susanne hinweg auf die Illustrierte. Diesmal gibt es eine Gartengarnitur zu gewinnen. Brauchen wir nicht, denke ich. Schon das Essen in diesem Schnellrestaurant war alles andere als überzeugend. Während ich gerade darüber nachdenke, wann ich den Rasen mal wieder mähen sollte, sehe ich, wie Hermann Frank wieder aufsteht. Ich wundere mich, denn er kann die Bierdose nicht so schnell geleert haben. Etwas stört mich an seinem Gang. Das Telefon, überlege ich, als er mit einem Gewehr zurückkommt, den Lauf in den Mund schiebt und abdrückt.
Susanne tippt hektisch die Notrufnummer, und ich klettere über den Zaun zu ihm. Ich bin kein Arzt, aber ich weiß, wann man nichts mehr machen kann. Dafür war ich lange genug beim Bund. Trotzdem drücke ich den Zeige- und Mittelfinger auf seine Halsschlagader. Das Blut, dieses hellrote Blut.
Da passiert es, dass ich wieder an Gregor denke. Daran, was damals mit uns passiert ist.
Ich setze mich auf einen der Stühle und genehmige mir einen kräftigen Schluck aus der Bierdose. Vielleicht hätte ich mich schon vorher wehren sollen, überlege ich. Dann wäre es gar nicht soweit gekommen. Ich trinke die Dose aus. Und mit einem Mal fällt mir alles ein, haarklein, was ich die ganzen Jahre vergessen – nun, nicht gerade vergessen, aber in Kisten gepackt habe.
Der Krankenwagen ist sehr schnell da. Das Martinshorn zerschneidet die Ruhe dieses Sonntagnachmittags. Ich erhebe mich aus dem Stuhl und warte. Ein Arzt hastet an mir vorbei. Er hat schwarze Haare. Sie hängen ihm in die Stirn. Er beugt sich über den Toten und versucht einen Puls zu finden. Die Sanitäter knien neben dem Mann, der noch immer die Waffe hält. Erst jetzt wird das Martinshorn ausgeschaltet.
„Ich war es, ich habe ihn erschossen“, sage ich.
Ich sage es leise. Niemand erwidert etwas.
Der Arzt erhebt sich und kommt herüber. Er gibt mir die Hand. Er schwitzt.
„Haben Sie uns gerufen? Kennen Sie den Mann?“
„Ja“, sage ich. „Er ist unser neuer Nachbar.“
Der Arzt berührt mich vorsichtig an der Schulter. Er öffnet seine Tasche, nimmt einen Rezeptblock heraus, kritzelt etwas darauf und gibt mir den Zettel.
„Warum?“, frage ich.
„Sie stehen unter Schock. Falls Sie nicht schlafen können.“
„Danke“, antworte ich. „Darauf habe ich lange gewartet.“
Weil ich keine Antwort bekomme, gehe ich zurück zu unserem Haus. Während des kurzen Weges schießen mir Einzelheiten von damals durch den Kopf. Gregor, der quälen konnte, die Klasse, die sich gegen mich verschworen hatte, und ich. Am Zaun bleibe ich mit der Jeans hängen, sie zerreißt an einer der hinteren Taschen.
Auf der Terrasse erzähle ich meiner Frau, was passiert ist; mit vierzehn, als ich mir nicht anders zu helfen wusste. Sie umarmt mich, und dann entlädt sich etwas. Das Sommergewitter, es kommt.

 

 

P.S.: »Flash Fiction – shortshort Storys« wird von Kulturfunke* gefördert – vielen Dank dafür!

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Matthias Kröner - Grüner Weg 44 - 23909 Ratzeburg - Tel.: 0176/32331629