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Liebe Freundinnen und Freunde des guten Wortes,
liebe Lyrikfans,

ich weiß, dass die Lyrische Post bis Österreich und nach Frankreich reicht; es gibt sogar einen Leser in Ecuador … Dazu passend, schrieb mir Jörg Niehoegen: "Wir leben in England und Ihre regelmäßige Post mit den verschiedensten Gedichten hat mich diesem mir immer sehr fremden Genre nähergebracht. Rückert gefällt mir ganz besonders. Ich freue mich jeden Morgen, nachdem der Wecker klingelt, auf das nächste Gedicht. Vielen Dank dafür."
Außerdem ist Herr Niehoegen auf eine zweite Metalband gestoßen, die auch (!) das "Schatten"-Gedicht vertont, ja sogar ein ganzes Album zu den "Kindertodtenliedern" erschaffen hat; darunter Rückert-Gedichte und eigene Lyrics. Die Band heißt Bellgrave, und die Scheibe erschien 2012.

Kurz und knackig äußerte sich Sabine Welß zu Tag 20: "Mehr Sein als Schein, das entscheidet jeder für sich oder manchmal auch die Situation, in der man gerade lebt." So ist es wohl! Trotzdem sollte das Sein den Schein weit überstrahlen – im entgegengesetzten Fall hat man vielleicht Erfolg, doch keine innere Ruhe.

Folgen wir heute Rückert nach Berlin und schauen wir, wie es sich dort verhält: mit dem Schein und dem Sein!

Herzliche Grüße,
Matthias Kröner

 

Auf unebenen Boden des Feldwegs, den der Spaziergang
mich nach Gewohnheit führt, ohne begleitenden Stab,
gehn die gealterten Füße noch sicherer, als mir die jüngern
jüngst auf glattem Gediel gingen im Fürstenpalast.

 

Kurz eingeordnet

Rückert konnte das fast schon obszön-großzügige Angebot von Friedrich Wilhelm IV. nicht ausschlagen: Statt 800 Taler jährlich erhielt er 3.000!
Deshalb ging er am 3. Oktober 1841 als Geheimer Regierungsrat und Professor der orientalischen Sprachen nach Berlin. Der Poeta doctus bedingte sich sogar aus, nur im Wintersemester zu lehren, doch selbst diese Tätigkeit überforderte den ländlich und provinziell geprägten Rückert. Achtung, seine Geisteshaltung war eine kosmopolitische, zumindest was seine Interessen betraf. Doch ein Salonlöwe wurde Rückert nie! So verstand er sein Salär auch eher als Schmerzensgeld, wobei es schwierig bis unmöglich ist, den genauen Gegenwert heute auszurechnen. Man kann davon ausgehen, dass ein Haushalt mit fünf Personen um 1850 etwa 3,5 Taler pro Woche ausgab. Entsprechend hoch war das Gehalt des Exil-Franken im fremden kalten Berlin!
Dass es nicht nur Rückert, sondern auch dem Preußenkönig schwerfiel, seinen Dichter adäquat einzuschätzen, zeigt ein Zitat der Herzogin Friederike von Anhalt-Dessau, die sich höchstinteressiert und neugierig nach dem berühmten Poeten erkundigte: „‚Da!‘, sagte der König. ‚Der breitschultrige Bauer, der da ein großes Stück Brot mit dem Ellenbogen auf dem Tisch verzehrt, das ist der Dichter!‘“
Schon Jahrzehnte vorher, 1815 bis 1817, als der junge Dichter in Stuttgart die literarische Abteilung des „Morgenblatts für gebildete Stände“ leitete, schrieb Therese Huber über ihn: „Rückert ist einer der längsten, häßlichsten Menschen, die ich je gesehen.“ Und weiter: „Ganz wie ein ungesitteter Mensch nur mit sich beschäftigt, fühlt er nie, wie manche seiner Reden beleidigen, er fühlt keine der Unanständigkeiten, die er begeht, – wenn er zwischen dem Theetisch und den Damen, diesen den Rücken zuwendend, sich durchdrängt – wenn er seine Beine unter ihren Stuhl strecke und damit trommelt, wenn er den Bart über die Tasse hält und löffelt und hundert solche Unbilde, – ja er bemerkt den Eindruck, den er macht, um so weniger, da er sehr gutherzig und sittlich ist und gar nicht beleidigen will.“
Auch auf seiner ausgedehnten Italien-Reise von 1817 bis 1819 wird er in Rom von Henriette Herz als „Schrecken der Kinder, oft sogar der Erwachsenen“ beschrieben, was ein klein wenig unfair – und sicher seiner schieren Körperhöhe geschuldet ist!
Trotzdem: Rückert ging lieber auf dem „unebenen Boden des Feldwegs“ als auf „glattem Gediel des Fürstenpalasts“, wie er im obigen Vierzeiler zugibt, der sich fast wie ein lyrischer Tagebucheintrag liest. Doch nicht nur deshalb verließ er Berlin auf Nimmerwiedersehen und widmete der Stadt, wie einst Erlangen, ein Schmähgedicht. Er vermisste auch stark seine Frau und wollte zurück – ins erdverbundene und überschaubare Franken!

 

P.S. Das Schmähgedicht auf Berlin ist zu schön, um es Ihnen vorzuenthalten. Bitte! „Der Spree / ist’weh, / sie kann sich nicht entschließen / in Berlin hinein zu fließen, / wo die Gossen sich ergießen. / Wer mag es ihr verdenken? / Sie möchte lieber, wenn sie dürft’, umlenken. / Hindurch doch muß sie schwerbeklommen. / Sie kommt beim Oberbaum herein / rein wie ein Schwan, um wie ein Schwein / beim Unterbaum herauszukommen.“ Ob sich Rückert in der Metropole genauso gefühlt hat?! Wir müssen es leider annehmen …

 

 

 

 

P.S. Das Rückert-Projekt wird von der Stadt Schweinfurt, der Rückert-Gesellschaft e. V. und der Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten e. V. gefördert. Vielen Dank dafür – ohne diese Unterstützung wäre das Projekt nicht möglich!

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 Rückert Gesellschaft

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