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Liebe Freundinnen und Freunde des guten Wortes,
liebe Lyrikfans,

willkommen zu meinem neuesten digitalen Literaturprojekt, dem Rückert-Projekt!
Es wird an 33 Tagen je 1 Rückert-Gedicht und 1 kurze launige Einordnung dieses Gedichts von mir geben.

Wichtig: Ich bestehe in meinen kurzen Einordnungen der Gedichte nicht auf Vollständigkeit und noch weniger auf „Die Wahrheit“. Die Interpretation eines Gedichtes ist immer offen und subjektiv. Was mich aber interessiert: Was haben diese Gedichte mit Rückerts Lebenswirklichkeit zu tun? Was verraten sie uns über die Zeit, in der sie geschrieben sind? Und, ganz wichtig: Was sagen sie uns heute?

Außerdem veröffentliche ich die Gedichte so, dass nicht automatisch das erste Wort eines Verses immer groß geschrieben ist (wie das im 19. Jahrhundert meist Mode war). Diese kleine Änderung dient ausschließlich der besseren Lesbarkeit.

Genug der Vorworte! Stürzen wir uns in den Ozean der Rückertschen Dichtung!

Viel Vergnügen,
Matthias Kröner

 

Grammatische Deutschheit

Neulich deutschten auf deutsch vier deutsche Deutschlinge
deutschend,
sich überdeutschend am Deutsch, welcher der deutscheste sey.
Vier deutschnamig benannt: Deutsch, Deutscherig, Deutscherling, Deutschdich;
selbst so hatten zu deutsch sie sich die Namen gedeutscht.
Jetzt wettdeuschten sie, deutschend in grammatikalischer
Deutschheit,
deutscheren Komparativ, deutschesten Superlativ.
„Ich bin deutscher als deutsch.“
„Ich deutscherer.“
„Deutschester bin ich.“
„Ich bin der Deutschereste, oder der Deutschestere.“
Drauf durch Komparativ und Superlativ fortdeutschend,
deutschten sie auf bis zum – Deutschesteresteresten;
bis sie vor komparativisch- und superlativischer Deutschung
den Positiv von Deutsch hatten vergessen zuletzt.

 

Kurz eingeordnet

Dieses Gedicht klingt modern, fast wie ein Rap oder zumindest wie ein Poetry-Slam-Gedicht. Es hat eine schräge Ohrwurmqualität, einen ganz eigenen Rhythmus und Sound – und schreit geradezu nach Vertonung. Und wirklich: Der aus Westafrika stammende und in Dresden lebende Musiker Ezé Wendtoin zitiert die „Grammatische Deutschheit“ in einem Song.
Moment mal, wann sind diese Zeilen entstanden? 1819! War Friedrich Rückert seiner Zeit voraus? Ein Anti-Nationalist, als alle nur an Ländergrenzen dachten? Nun, in seinen „Geharnischten Sonetten“ (1814) schrieb der Spätromantiker gegen die Invasion Napoleons an. Er tat das kriegsverherrlichend, stark nationalistisch und antifranzösisch. Außerdem gibt es im großen mehr als 20.000 Gedichte umfassenden Rückert-Kosmos auch – einige wenige – Gedichte mit antisemitischen Klischees … Ausgerechnet eines davon nutzten die Nazis für einen siebenminütigen antijüdischen Zeichentrickfilm.
Zugleich glaubte Rückert an eine Weltversöhnung durch Weltpoesie – und schuf dieses listige die Deutschtümelei ankreidende Gedicht, das es sogar in Robert Gernhardts „Hell und Schnell. 555 komische Gedichte aus 5 Jahrhunderten geschafft“ hat.
Obwohl wir uns fast schon angewöhnt haben, einen Menschen entweder zu feiern oder zu verdammen, scheint es doch nie ganz so einfach zu sein …

 

 

 

 

P.S. Das Rückert-Projekt wird von der Stadt Schweinfurt, der Rückert-Gesellschaft e. V. und der Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten e. V. gefördert. Vielen Dank dafür – ohne diese Unterstützung wäre das Projekt nicht möglich!

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 Rückert Gesellschaft

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