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Liebe Freundinnen und Freunde des guten Wortes,
liebe Lyrikfans,

eine Leserin der allerersten Stunde, damals als die Lyrische Post als Corona-Projekt gestartet ist, hat sich gestern gemeldet und sehr schöne, ehrliche Worte zu Vergänglichkeit gefunden, also zum Thema von Tag 5: "Was sind ältere, gebrechliche Menschen doch für wahre Held:innen, die oft tapfer und klaglos durchs restliche Leben schreiten und zusätzlich von der so manches Mal 'unbedarft arroganten' Jugend belächelt, zur Seite geschoben und als lästig empfunden werden. Dabei waren diese 'Alten' selbst einmal so jung und fit, und die 'Jungen' werden auch dort einmal sein, wo erstere nun sind … Ich liebe die Mischung der Generationen – keine Ghettos wie Kitas, Altenpflegeheime und ähnliches! –, weil sich alle gegenseitig so gut befruchten KÖNNTEN. In anderen Ländern und Kulturen klappt das besser als in Deutschland. Eigentlich schade, weil dabei so viel Gutes verloren geht!"

Eine zweite Leserin hat sich zu Tag 4 gemeldet, dem gereimten Aphorismus-Gedicht, in dem es um Selbstfindung geht: "Ich habe Buchhändlerin gelernt, da Literatur mein wichtigstes Thema war. Konnte aber den Beruf nicht ausführen, da es nach dem Krieg wenig Käufer gab und die Buchhändler keine Angestellten bezahlen konnten und ich als Flüchtling keine Buchhandlung eröffnen konnte. Aber später, als ich Veranstaltungsleiterin in Timmendorfer Strand wurde, konnte ich namhafte oder junge Autoren zu Lesungen engagieren. Außer Günter Grass, der schon ein Freund war, haben Walter Kempowski, Siegfried Lenz und auch der wunderbare Mensch, ehemaliger Herausgeber der HÖRZU, Peter Bachér, hier gelesen. Ich habe meinen Frieden gefunden in der Literatur und mit Autoren."

Danke für eure und Ihre Mails! Ich denke, ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass sie uns alle bereichern.

Und nun viel Freude mit einer lyrischen Auseinandersetzung zum Menschsein ganz allgemein!

Matthias Kröner

 

Des ganzen Menschen und des einzelnen Geschichte,
zusammenfassen kannst du sie in drei Berichte:

Der Mensch, mit der Natur im Frieden, war ein Kind;
das sind die Glücklichen, die es geblieben sind.

Der Mensch, mit der Natur im Kampfe, ward ein Mann,
gewann, verlor, gewann, verlor, gewann, gewann.

Der Mensch mit der Natur Besiegung wird ein Greis,
des neuen Friedens Kind; so kreist in sich der Kreis.

 

Kurz eingeordnet

„Die Weisheit des Brahmanen“ (1836–1839), ein sechsbändiger Zyklus mit mehr als 2.500 Gedichten, aus denen dieses lyrische Stück entnommen ist, gilt immer wieder als Hauptwerk von Friedrich Rückert.
Schauen wir uns zunächst den ungewöhnlichen Titel an! Mit „Brahmane“ bezeichnet man im – nicht gerade menschenfreundlichen – indischen Kastensystem, die Angehörigen der höchsten Kaste: hauptsächlich Priester. Dass sie andererseits über spirituelle (Lebens-)Weisheiten verfügen, steht auf einem anderen Blatt. Zumal sich Rückert damals längst intensiv mit orientalischen und asiatischen Sprachen beschäftigt hat – und in deren Lyrik eintauchte.
Worum geht es in diesen vier Zweizeilern? Um nichts weniger als den Streit und die Versöhnung des Menschen mit seiner eigenen Natur und der Außenwelt. Rückert spielt die drei Lebensphasen des „Mannes“ (!) durch, was heute unfreiwillig lächerlich wirkt … Doch wenn wir dieses Gedicht geschlechterneutral betrachten, ist schon was dran an seinen drei Erkenntnissen!
Für Kinder ist die Welt meistens ein großes Wunder. Sie betrachten sie wie Außerirdische, die gerade auf die Erde gekommen sind (was ja in gewisser Weise so ist): mit einem großen Staunen. Sofern sie sich nicht an einer Brombeerhecke verletzen oder die Knie aufschrammen, ist ihre Welt im Einklang. Mit dem steigenden Bewusstsein des Menschen über sich und seine Umwelt, beginnt der „Kampf“. Man fängt an, sich kennen zu lernen, was nicht immer angenehm ausfällt. Auch die Wünsche, die so bedingungslos dastehen, erfüllen sich nicht, manchmal gelingen sie, dann wieder geht es schief. Nur im Alter, indem einen die Natur besiegt und man sich akzeptiert und annimmt, geschieht eine Rückverwandlung ins erneute Staunen über diesen seltsamen, sehr merkwürdigen Lebenslauf.
Oder wie Janosch so liebevoll und humorvoll in „Post für den Tiger“ (1980) schreibt, einem Kinderbuch, in dem es auch um Depressionen, Selbstfindung und Kommunikation (mit sich selbst) geht: „‚O Bär‘, sagte der Tiger, ‚ist das Leben nicht unheimlich schön, sag!‘ ‚Ja‘, sagte der kleine Bar, ‚ganz unheimlich und schön.‘“

P.S. Wer sich nun überlegt, „Die Weisheit des Brahmanen“ (1836–1839) zuzulegen, dem sei gesagt, dass darin zwar die Strömungen der orientalisch-asiatischen und westlichen Philosophie zusammenfließen. Gleichzeitig sprach „Die Zeit“ in einer kritischen Betrachtung vom 15. August 2002 von einer „fast fabelhaften Langweiligkeit“ und „entsetzlichen Weisheitswüste“ … Obwohl ich einige Gedichte davon ausdrücklich ausnehme (dieses zum Beispiel!), kann ich leider nicht rückhaltlos widersprechen.

 

 

 

 

P.S. Das Rückert-Projekt wird von der Stadt Schweinfurt, der Rückert-Gesellschaft e. V. und der Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten e. V. gefördert. Vielen Dank dafür – ohne diese Unterstützung wäre das Projekt nicht möglich!

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