Sich was trauen
Eine Flash-Fiction-Geschichte von Silke Borchardt
Das Schwimmbecken ist von hier oben sehr türkis. Und sehr weit weg. Fünf Meter. Es sieht nach viel viel mehr aus. Ihr wird ein bisschen schwindlig, als sie an die vordere Kante des Sprungturms tritt. Unten sieht sie den Jungen auftauchen, der eben vor ihr runtergesprungen ist. Er taucht aus dem Wasser auf und wischt sich prustend die Haarsträhnen aus dem Gesicht. Seine Freunde am Beckenrand johlen. Sie geht ein paar Schritte zurück. Unter ihren Füßen spürt sie den warmen Betonboden. Nervös reibt sie die Zehen gegeneinander.
„Na, Schiss gekriegt?“ Erschrocken blickt sie auf. Sie hatte gedacht, sie wäre allein hier oben. Am Metallgeländer ihr gegenüber lehnt ein Junge, ein paar Jahre älter als sie, vielleicht dreizehn. Er ist ziemlich blass, aber der Sommer fängt ja auch gerade erst an. Sie senkt schnell wieder den Blick, schüttelt den Kopf. „Is gar nicht so hoch, wies ausschaut“, sagt er. „Man is schnell unten.“
Sie wirft ihm einen schüchternen Blick zu. „Bist du schon oft gesprungen?“ Eine vage Handbewegung, die vieles bedeuten kann. Erstaunt sieht sie, wie der Junge aus dem Bund seiner Badehose ein Päckchen Zigaretten und ein Feuerzeug herausfummelt. Frischer Tabakqualm weht zu ihr herüber. Sie runzelt sie Stirn. Zum Rauchen ist er viel zu jung, findet sie, und überhaupt, in der Badehose wird doch alles nass.
„Wie heißt du?“ traut sie sich zu fragen. „Lila.“ „Lila? Das ist doch kein Name!“ fährt es ihr heraus. „Ach nein?“ Er mustert sie von oben herab. „Heißtn du?“ „Inken.“ „Inken? Wie hinken? Na klar, das ist natürlich viel besser.“ Er hebt spöttisch eine Augenbraue und ascht über das Metallgeländer. Sie verflucht sich innerlich. Hätte sie bloß nichts gesagt. Sie weiß doch, was passiert, wenn ihr Name zur Sprache kommt. Seit sie vor zwei Jahren hierhergezogen sind, hat sie eine Menge Spott deswegen zu hören bekommen. Hinken war davon noch das Harmloseste. Kurz denkt sie an das zugige Freibad, in dem sie schwimmen gelernt hat, zusammen mit den anderen Kindern aus ihrer Siedlung. Sönke hießen die, Gesche und Björn. Völlig normale Namen, fand sie. Bis sie umgezogen sind in eine Stadt, in der die Kinder Ludwig heißen oder Evi. Und die sich darüber lustig machen, wie sie spricht.
„Und? Wirste dich trauen?“ Lila blickt sie ernst und interessiert an. „Ich hab mal von nem Jungen gehört“, fährt er fort, „der Angst gekriegt hat und die Leiter wieder runtergeklettert ist. Dann is er abgestürzt und war tot.“ Inken guckt ihn erschrocken und zweifelnd an. „Echt, das stimmt. Ich habs in der Zeitung gelesen.“
Sie spürt ihr Herz pochen. Hätte sie sich doch bloß nicht in diese Lage gebracht. Sie wirft einen Blick hinunter auf die Liegewiese und sieht dort die zwei Jungen aus ihrer Klasse stehen. Der eine boxt dem andere gerade in die Seite. Der rempelt zurück. Sie meint, das Lachen der beiden bis hier herauf zu hören. Kein Mädchen aus der Klasse würde sich trauen, vom Fünfer zu springen. Ach was, sie doch? Das solle sie mal beweisen. Inken witterte ihre Chance. Und jetzt steht sie hier oben und traut sich eben doch nicht.
„Soll ich dich schubsen?“ fragt Lila. „Dann isses beim ersten Mal einfacher.“ „Auf keinen Fall!“ Allein bei der Vorstellung kriegt sie sofort ein ganz merkwürdiges Gefühl im Magen. „Weißt du, je länger du nachdenkst, desto schwieriger wirds. Ich schlag vor, wir setzen uns vorn zusammen an die Kante. Dann zählen wir bis drei und du springst. Is echt kein großes Ding.“ Er schnippt die Zigarettenkippe über die Brüstung, offenbar ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass die unten jemand treffen könnte. Inken beißt sich auf die Lippen.
Dann sitzen sie nebeneinander hoch über dem Becken. Sie legt ihre Handflächen aneinander, eiskalt sind die und klebrig vom Schweiß. Lila neigt sich zu ihr herüber. Ihre Schultern berühren sich. „Schaffst du locker“, raunt er ihr zu. „Zeigs den kleinen Pissern da unten.“ Sie kichert. Dann holt sie tief Luft. Eins. Zwei. Drei. Sie stößt sich mit den Händen ab und spürt, wie sie fällt. Früher als erwartet, durchschlägt sie die Wasseroberfläche. Die Wucht des Aufpralls zerrt an ihrem Badeanzug. Es rauscht in ihren Ohren. Der Boden des Beckens. Sie stößt sich ab und ist mit ein paar Zügen wieder oben. Sie schwimmt zum Rand.
Ludwig und Cornelius kommen angelaufen. „Mann, Inken, das hat ja ewig gedauert. Wir dachten, du bringst es nicht.“ Sie lacht fröhlich und befreit. „Hab noch jemand getroffen.“ „Echt? Wir haben nur dich gesehen. Ich hatte Schiss, dass du wieder runterkletterst. Kennst du die Geschichte von dem Kind, das beim Runterklettern abgestürzt und gestorben ist?“ Inken verdreht die Augen. „Jetzt ja.“ Sie wirft einen Blick hinauf zum Fünfmeterbrett. Der Junge, der vor ihr gesprungen war, ist schon wieder da. Sonst niemand.
Sie stemmt sich am Beckenrand hoch. „Ich hol mir was vom Kiosk. Ihr auch?“ Als sie über die Wiese läuft, hat sie das Gefühl zu schweben. Es riecht nach Heckenrosen, Sonnencreme und Pommes frites. Am Spind nimmt sie ein paar Münzen aus ihrer Geldbörse. Aus dem Augenwinkel sieht sie plötzlich Lila. Er guckt um die Ecke, reckt einen Daumen in die Höhe und verschwindet wieder. Sie grinst. Beim Büdchen wird sie heute zum ersten Mal das teure Eis mit der vielen Schokolade nehmen. Das hat sie sich echt verdient. Sie ist zehn Jahre, und der Sommer verspricht, gut zu werden.
Zur Autorin: Silke Borchardt, *1968 in Cochem an der Mosel. Seit 1994 lebt die Psychotherapeutin in Hamburg. Sie schreibt Kurz- und Kürzestgeschichten und wurde 2023 für die 13. Hamburger Debütantenbörse ausgewählt.