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Liebe Freundinnen und Freunde des guten Wortes, liebe Lyrikfans,

herzlich willkommen zu meinem neuen Projekt »Flash Fiction – 33 shortshort Storys«! Heute und in den folgenden 29 Tagen geht es um Kurz- und Kürzestgeschichten bis höchstens 1.000 Wörter. Diese junge literarische Gattung stammt aus dem anglo-amerikanischen Bereich – und steht der Lyrik nahe.

Wer mag, kann die Flash-Fiction-Storys auch als kleine Lesungen genießen – beim Frühstück, während man pendelt, am Feierabend, in der Badewanne … Außerdem suche ich für Ausgabe 11 und Ausgabe 22 zwei Flash-Fiction-Geschichten von Ihnen, die ich mit 50 Euro honorieren werde.

Viel Freude beim Lesen und Hören!
Ihr Matthias Kröner

 

Vogelflugstudien

Ich bin nicht sicher, ob es an dem Gedicht von Nietzsche lag, weshalb ich am Morgen alleine aufstand, schnell einen Kaffee kochte, die Zigaretten einpackte und zum Ufer des Flusses ging. Die meisten Dinge kann man im Nachhinein nicht mehr zuordnen; sie geschehen, wie Vasen herunterfallen.
Die Luft war klar; eine Kälte, die ich von früher kannte. Damals, als ich noch die Nachtschichten in der Druckerei abriss. Ich machte den Job, um ein halbes Jahr zu verreisen. Nach Frankreich, an die Atlantikküste. Dorthin, wo die Strände unendlich weit sind. Sogar vom Flugzeug aus sieht man sie. Die langen, feinsandigen Dünen. – Damals in den Pausen zwischen den Fließbandjobs, wenn die anderen Backgammon spielten, sich einen Schuss setzten oder mit der Bedienung der Nachtkantine nach Hause wollten, stellte ich mich vor die Lagerhalle und ließ mich einfrieren, sah zu, wie die Dämmerung langsam nachließ, und genoss die stillen, unabänderlichen Geräusche um drei Uhr morgens.
Ich mochte die Kälte. Und ich mochte den beißenden Rauch der Kippe. Der Tau hatte sich auf das Gras gelegt und manche Bäume schienen zu überlegen, ob sie den Frost von den Ästen schütteln und auf eine fadenscheinige Sonne hoffen sollten, eine dürre Sonne, gefiltert durch Milliarden von Molekülen. Ich sah den Fluss, der an den Rändern von einer dicken Eisschicht überzogen war. Und ich beobachtete die Krähen, die auf der anderen Seite herumstolzierten; manche pickten in den gefrorenen Boden. Doch es lag keine Energie darin. Jede Motivation hatte die Luft geschluckt.

Ich kann nicht sagen, dass ich den Auftrag hasste, die Entführung war leicht gewesen. Ich war hineingerutscht wie ein Kind, das in eine der Röhren im Freibad steigt, sobald die kleine Ampel auf Grün umspringt. Man legte sich auf den Rücken und hob die Wirbelsäule, um den Widerstand mit der Rutsche gering zu halten. Es war erst die zweite Erpressung, an der ich mitwirkte, doch in gewisser Weise hatte sich bereits eine Routine eingestellt. Das Anstrengende war die ewige Warterei.
Während ich über diese Dinge nachdachte und in die Böschung am Ufer starrte, sah ich ihn plötzlich vor mir. Er war aus dem Nest gefallen; das Federkleid zitterte. Zuerst ging ich weiter, dann warf ich doch einen Blick zurück. Du kannst hier nicht überleben, dachte ich, und wahrscheinlich lag es an ihm, jenem unbeholfenen, kleinen Kerl, weswegen ich mich entschieden hatte. Ich warf die zur Hälfte gerauchte Kippe weg, hauchte in meine Hände und hob das Tier vom gefrorenen Boden auf. Im Haus bettete ich es auf zerknülltes Küchenpapier. Was tat man mit einem Vogelkind?
Ich entsicherte meine Waffe und ging die Kellertreppe nach unten, eine Betontreppe, nichts Besonderes. Marek schnarchte. Er lümmelte vor dem Raum in einem alten Sessel, in dem ich ebenfalls schon gepennt hatte. Ich schloss leise die Türe auf.
Das Mädchen atmete ruhig und langsam. Nur ihre Finger krampften sich immer wieder zu kleinen Fäusten. Vorsichtig rüttelte ich sie an der Schulter und legte den Zeigefinger an meine Lippen. Mit Gesten versuchte ich ihr zu sagen, dass sie unbedingt still sein musste.
„Weißt du, wie man einen kleinen Vogel großzieht?“ flüsterte ich.
Sie sah aus zwei großen Augen an mir herauf.
„Er ist oben“, sagte ich. „In der Küche. Willst du ihn sehen?“
Das Mädchen nickte. Wir schlichen uns an Marek vorbei zur Treppe. Wie Indianer traten wir auf die Stufen, bis wir das Erdgeschoss des kleinen, abgelegenen Hauses erreicht hatten.
„Wo?“, fragte sie und sah sich in unserem Junggesellendurcheinander um. Die letzten Wochen hatten wir uns aus einer Pizzabude am anderen Ende der Stadt versorgt. Auf dem vermüllten Küchentisch stand eine Plastikbong. Die Reste der Mischung waren von letzter Nacht.
„Wo?“, fragte das Mädchen noch mal. Ich musste sie hochheben, damit sie den Vogel sehen konnte.
„Wir haben einen Tierarzt“, sagte das kleine Mädchen. „Liska, meine Katze, ist einmal von einem Bus angefahren worden.“
Dann brach sie in Tränen aus. Ich war vollkommen überfordert, strich ihr verwirrt über die Haare, drückte sie an mich, stellte sie auf den Boden.
„Es ist nur, weil ich doch vielleicht nie mehr heimkomme.“
„Wer sagt das?“
„Der.“
Sie deutete auf Marek, der im Türrahmen erschienen war. Er sah aus verkaterten Augen zu uns herüber.
„Was macht ihr da? Fickst du die Kleine?“
Ich zog meine Waffe und schoss. Es brauchte vier Schüsse, bis ich mich erneut konzentrieren konnte.
Ich ging in die Hocke.
„Das ist Quatsch, hörst du. Wir wollen dir nichts tun. Wir wollen …“ Ich winkte ab. „Kannst du den Vogel noch heute zu einem Arzt bringen?“
Sie nickte eifrig. Ich stellte sie mir als Schülerin vor, als Schülerin, die an die Tafel musste. Die Lehrer würden sie sicher in Ruhe lassen; die fiesen Fragen waren für jemand anders. Vielleicht würde sie später den Männern die Herzen brechen. So war eben der Lauf der Welt.
„Und du?“
„Ich?“
Ich sah auf die Bäume, die Krähen, die jetzt auf den eingerosteten Ästen hockten. Obwohl es erst Mitte September war, war die Kälte überraschend hereingebrochen. Nur der Fluss rauschte, als ob es Frühling wäre. Ein kalter, unberechenbarer Frühling.
„Vielleicht könntest du mein Gesicht vergessen?“
„Wie denn?“
Und in diesem Moment war es für mich zuviel. Ich packte sie in den Wagen und fuhr zur Haltestelle. Es dauerte zwanzig Minuten, bis der 71er neben dem Häuschen hielt.
„Du versprichst es mir“, sagte ich.
Sie sah auf den Vogel und nickte. Dann informierte ich ihre Eltern und versenkte das Handy im Fluss.

Vor Jahren war in einer Ausstellung von Michelangelo. Am meisten hatten mich drei Zeichnungen fasziniert. Der Flug eines Vogels war dargestellt, die einzelnen Flügelschläge. Die Besucher sind zu den großen Ölgemälden, zu den genialen Erfindungen, zum Raum über sein Schwulsein und die Darstellung von Männerhoden.
Ich war vor den Zeichnungen gestanden und hatte an Frankreich gedacht: an die Dünen, die der Atlantik für sich beansprucht.
Vielleicht ist es die Kunst, die einen verändern kann, dachte ich, während ich langsam den Wagen startete. Im Rückspiegel betrachtete ich den Bus, die Rücklichter, die sich von mir entfernten.
Ich war nicht sicher.

 

 

P.S.: »Flash Fiction – shortshort Storys« wird von Kulturfunke* gefördert – vielen Dank dafür!

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Matthias Kröner - Grüner Weg 44 - 23909 Ratzeburg - Tel.: 0176/32331629