Der Tiefflieger (oder: Die Macht der Orte)
Ich lebe in der Nähe von Lübeck.
Wenn ich in meine alte Heimat nach Franken reise, kleben die Orte an mir. An dieser Straßenecke in Fürth habe ich mal geknutscht. In dieser Studentenbude in Erlangen hatte ich übelste Liebesschmerzen. Unter jener Loggia in Nürnberg habe ich eine Kokosnuss aufgeklopft, weshalb der Nachbar unter mir mit dem Luftgewehr drohte und mich – fränkisch-elegant – als „Großstadtindianer“ beschimpfte. Das war darüber hinaus auch lustig, denn ich wüsste nicht, dass die Indigenen im heutigen Amerika mit Kokosnüssen zu kämpfen hatten …
Egal, wo es mich hintreibt – Orte, an denen ich schon gewesen bin, stellen etwas mit mir an. Sobald ich sie aufsuche, kommen die unangenehmen und guten Erlebnisse wieder. Sie fangen in mir zu schuften an, wie kleine Bergarbeiter. Manchmal fördern sie Juwelen zutage, manchmal Staub, und manchmal verursachen sie Erdspalten. –
Wenn ich von Lübeck aus in den Süden reise, ist das immer ein bisschen Arbeit. Der Süden wirkt nach in mir. All das, was dort geschehen ist – selbst wenn es gut und groß war.
Hängt es auch mit den Kriegserlebnissen zusammen, die meine Eltern mit sich herumtragen? Die überall kleben? Die man nicht wegwischen kann oder putzen?
Graben wir uns dreißig Jahre zurück! Ich war in der Schule der, der die ältesten Eltern hatte. Sie haben etwas erlebt, das meine Kumpels und Freundinnen bestenfalls von ihren Großeltern kannten, wenn überhaupt. Mein Vater befand sich während des härtesten Bombenangriffs auf Nürnberg in einem Luftschutzkeller. Das war am 2. Januar 1945; er war gerade mal neun. Er erzählte mir – ich war 15 oder 16 und der Krieg weit weg –, wie die Wände schwankten. Wie die Tür wegen des Luftdrucks aufsprang. Wie die Leute weinten und beteten. Wie eine Radiostimme, der „Onkel Baldrian“, die Planquadrate aufzählte, ruhig, gelassen, über die die Flieger mit ihrer todbringenden Fracht in diesem und im nächsten Augenblick flogen. Er hörte die Einschläge der Bomben – und er sah, wie es brannte, hinterher, wie alles in Flammen stand, was vorher noch Haus war und Straße und Straßenbahnschiene und Laterne. Die Fenster waren zersprungen und seine Modelleisenbahn, die er gerade zu Weihnachten bekommen hatte, lag verstreut auf dem Boden – doch, „Hurra!“; sie funktionierte noch!
Manchmal glaube ich, dass ich diese Kriegstraumata mitauflöse, sie bearbeite, wie ein Bergarbeiter – sobald ich das Haus meiner Eltern in Franken betrete. Es ist ein gutes Haus, ein schönes, meine Mutter ist liebevoll und will, dass es ihren Enkeln und meiner Frau und mir gutgeht. Es sind sorglose Tage, die wir hier verbringen. Eine kleine Auszeit vom Alltag. Dem Alltag im Norden.
Trotzdem braucht ein Krieg seine Zeit. Meist sind es mehrere Generationen, die er durchläuft, bevor er wieder durch die Hinterkammern der Psyche abhaut – oder ein neuer anfängt … Man muss nicht dabei gewesen sein, um zu begreifen, wie stark er nachwirkt. Wie er sich langsam, ganz langsam ablöst und auf die nächste und übernächste Generation stempelt. Immer schwächer, mit immer weniger Druckerschwärze, aber er ist noch da.
Man erkennt ihn am Wortschatz. „Antreten!“ sagt meine Mutter, wenn ich ihr in der Küche helfen soll. „Bewaffne dich!“ sagt sie und zeigt zum Küchentuch. Und dann, wenn wir fertig sind und die Töpfe und Pfannen sauber und aufgeräumt im Regal stehen: „Jetzt bist du befreit!“ Sie meint es freundlich, da steckt ein Witz drin, doch das Vokabular liegt offen vor uns.
Der Norden beruhigt mich. Ich fahre dorthin zurück, in meine neue Heimat, meine eigentliche Heimat, denn ich habe sie selbst gewählt.
Alle hundert Kilometer spüre ich eine Veränderung. Oder sagen wir: Alle Stationen, an denen der Zug kurz anhält. Etwas fällt ab von mir. Ein Gepäck. Ein Kreuz, wie die Alten sagen würden. Die Daltons-Metallkugel an meinem Bein wird leichter. Irgendwann schwebt sie.
Trotzdem reise ich in den Süden. Nach Franken.
Ich will meine Mutter besuchen. Mein Vater lebt leider nicht mehr. Meine Mutter und ich machen Spaziergänge. Wir sitzen auf einer Bank. Ich stelle Fragen. Fragen, die mich beschäftigen, weil sie mit Orten verbunden sind; Spurensuche.
Sie nimmt einen ihrer Teleskopstöcke und zeichnet ein Gebäude in den schottrigen Fußpfad. Dann zeigt sie hinter sich, wo ein starker Baum in den aschgrauen Himmel wächst. Sie deutet auf die Dicke des Stammes. „So sahen die Bäume aus, die in einer langen Reihe vom Bahnhof wegführten.“
Meine Mutter als siebenjähriges Kind, ihr vierjähriger Bruder und ihre Mutter waren in Miltenberg, um den Bomben auf Nürnberg zu entgehen. Sie lebten bei Tante Betty in einer riesigen Bahnhofswohnung. Bettys Mann war ein Angestellter der Reichsbahn. Manchmal musste er nachts mit einer Draisine los, um Streckenreparaturen zu erledigen. Diesmal blieb alles ruhig. Meine Oma und ihre zwei Kinder waren auf dem Weg in die Innenstadt. Das Bahnhofsgebäude lag hinter ihnen. Sie liefen eine Allee entlang, gegenüber sahen sie die Ausläufer der kleinen Stadt, als mit einem ziehenden Geräusch der Tiefflieger auftauchte.
Er war da – aus dem Nichts!
Meine Mutter, ihr kleiner Bruder und ihre Mutter, damals 31, versteckten sich hinter einem der hohen Bäume. „Ich habe den Pilot gesehen“, beteuert meine Mutter. „Ich konnte ins Cockpit blicken.“
Der Tiefflieger flog vorbei. Der Pilot schoss – nicht.
Meine Oma und ihre zwei Kinder jagten zu einem zweiten Gebäude, das zwischen der Stadt und dem Bahnhof lag. Es war das Gebäude des Güterbahnhofs – „ich weiß heute noch, wie wir rannten“.
Der Pilot hätte sofort losfeuern oder eine Schlaufe drehen und gezielt auf sie schießen können.
Er tat es nicht.
Nur deshalb lebe ich. Deshalb leben meine Kinder und deshalb, nur deshalb kann ich darüber schreiben und ihm danken. Ihm, der trotz aller Widrigkeiten und Widerwärtigkeiten eines Weltkrieges mit einer Mutter und ihren Kindern Erbarmen hatte und Mitgefühl und sich eine Menschlichkeit bewahrt hat inmitten der Grauen eines Flächenbrands, den die Deutschen angesteckt hatten.
Der Pilot drehte bei. Drei Menschen überlebten.
Wir alle schreiben Geschichte. Wir schreiben Geschichte mit – indem wir Menschen verschonen.