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Liebe Freundinnen und Freunde des guten Wortes, liebe Lyrikfans,

werden alle Schriftstellerinnen und Schriftsteller demnächst abgeschafft, weil eine Künstliche Intelligenz die Bücher der Zukunft schreibt? Vielleicht. Doch bis es soweit ist, steigt hier die Party!

Ich freue mich sehr, Ihnen mitteilen zu können, dass es für mein neuestes literarisches Digitalprojekt wieder eine Förderung des Kulturfunken von der Possehl-Stiftung gegeben hat!
Das ist wunderbar und gibt mir erneut die Möglichkeit, Ihnen allen neue poetische Texte zuzusenden: gemeinnützig, niederschwellig und kostenlos.

Diesmal geht es um »Flash Fiction - 33 shortshort Storys«. Damit bezeichnet man Kurz- und Kürzestgeschichten bis höchstens 1.000 Wörter! Wie bei Gedichten kommt es darauf an, was zwischen den Zeilen steht: das Nicht-Gesagte, das sich im Kopf aufbaut und eine neue Erkenntnis zulässt, eine andere Sicht auf die Wirklichkeit.

Kommenden Mittwoch, am 8. März, geht es gleich morgens um 8 Uhr los. An 33 aufeinanderfolgenden Tagen bekommen Sie Storys, die von überraschenden Wendungen, von wichtigen Augenblicken in einem Leben handeln.
Außerdem habe ich 31 dieser Geschichten eingelesen, weshalb sie auch angehört werden können.

Warum nur 31? Ganz einfach! In Ausgabe 11 am 18. März und in Ausgabe 22 am 29. März kommen Sie zum Zug. Ich rufe schon jetzt dazu auf, mir Flash-Fiction-Storys mit höchstens 1.000 Wörtern zu schicken.
Die zwei literarisch stärksten Geschichten werde ich veröffentlichen und mit 50 Euro honorieren. Denn: Literatur hat einen konkreten Gegenwert verdient.

Senden Sie diesen Newsletter auch gerne an gute Freundinnen und Freunde – und: bis zum 8. März!

Ihr Matthias Kröner

P.S. Der Text des Tages ist heute natürlich eine Flash-Fiction-Story. Sie hat exakt 813 Wörter.

Farbenlehre

Als Gregor Assam eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, nahm er seine Umgebung ein wenig anders wahr.
Er erkannte Menschen von weitem, denn sie strahlten eine bestimmte Farbe aus. Die cholerischen schimmerten dunkelrot, die neidischen und die neugierigen gelb, die optimistischen grün. Und natürlich gab es auch Mischformen: Raffgierige Menschen, die zwischen einem tiefen Bordeauxrot (das einnehmend wirken konnte) und einem neongrellen Gelb (das an Skihosen in den 80ern erinnerte) hin- und herschwankten. Es gab hellgrüne Menschen, die in ihrer Freizeit mit Steinen sprachen, sattgrüne Genossen, die wirklich ans Gute glaubten und blauleuchtende Typen. Diese meerfarbenen Existenzen waren die seltensten: ungewöhnlich kreativ, aber auch schwierig in ihrer Selbstachtung, voller Zweifel, aber auch liebevoll, warmherzig wie egomanisch. –
Am liebsten waren Gregor die orangefarbigen Leute, denn sie waren die zufriedenen. Wenn Gregor mit diesen goldgelben Menschen sprach, versuchten sie nicht zu glänzen. In ihren Sätzen spürte man nicht ihr Ego; sie schienen mit ihrer Farbwahl einverstanden und gaben sich so, dass man gar nicht auf den Gedanken kam, sie wollten als etwas scheinen, was sie überhaupt nie waren.
Am Anfang hatte er wegen seiner neuen Fähigkeiten ein wenig Angst bekommen. Es passiert einem ja nicht oft, dass man am Morgen aufsteht und eine andere Wahrnehmung hat als am Vortag. Gregor hätte zum Psychiater gehen können. Doch was wollte er mit einem Gegengift? Es war spannend, den Menschen ins Herz zu sehen. Fortan wusste er, wem er trauen konnte. Mit gelben und roten Frauen ging er nicht mehr aus. Er kaufte gelben und roten Vertretern auch nichts mehr ab. Mit den grünen umgab er sich, wenn er schlechter Laune war, und von den Blauen lernte er; sie handelten intuitiver, verließen sich eher auf ihren Bauch, auch wenn die Vernunft etwas anderes von ihnen forderte. Tja, und in eine orangefarbene Frau verliebte er sich sehr schnell: Es war gut, mit jemand zu leben, der sich selber als besten Freund sah.

Das Einzige, was ihn stutzig machte, war sein eigenes Spiegelbild. Denn es besaß keine Farbe. Natürlich zeigte es die Farbe seiner Kleider, die Farbe seiner Haare und Haut. Auch die Farbe der Augen, die grüngrau schimmerte. Doch der Spiegel verweigerte ihm einen tieferen Blick.
Welcher Mensch bin ich, dachte er und versuchte in jedem Schaufenster die Grenzen der Wahrnehmung zu überwinden. Doch nicht einmal ein Brillenetui aus Edelmetall, in dem er sein Gesicht in verzerrter Art unter die Lupe nahm, verriet ihm eine Schattierung.
An einem Abend betrank er sich. Als Gregor dann, spät in der Nacht, schwankend auf die Toilette ging, meinte er im Vorüberhuschen etwas bemerkt zu haben. Er pinkelte, dann trat er zurück zum Spiegel. Was er sah, war ein Schock.
Ich bin gelb, sagte er entsetzt. Pissgelb.
Gregor betrachtete sich von allen Seiten. An einigen Stellen ging das Gelb ins Bordeauxrot über, manchmal gab es auch grüne Farbtupfer, manchmal blaue, doch keine orangefarbenen Nuancen. Dann stellte er sich auf einen Stuhl, um die Kniekehlen zu untersuchen. Auch hier fehlten die netten Töne. Gelb war die beherrschende Farbe seines Charakters. Wahrscheinlich ist es das Beste, dachte er, bevor er sich wieder ins Bett vergrub, wenn ich mich nur noch mit gelben Menschen umgebe, denn dann falle ich den anderen nicht auf die Nerven. Am Ende bin ich dafür verantwortlich, wenn sie abfärben.
Am nächsten Morgen traute er sich nur mit Sorgenfalten heraus. Er trat vorsichtig auf die Straße – als würde sie ihn nicht tragen wollen. Dann kaufte er beim Bäcker verschüchtert ein. Auch dem Metzger schaute er nicht in die Augen. Der Bäcker war wiesengrün, der Metzger indigoblau, was man an seinen ungewöhnlichen Wurstwaren erkennen konnte.
Gregor zahlte, dann wieselte er nach Hause. Im Spiegel überprüfte er zum wiederholten Mal, was er gestern Nacht schon gesehen hatte. Am liebsten hätte er sich in die Waschmaschine gezwängt, um die Farbe herauszuschleudern. Schließlich putzte er die gesamte Wohnung. Er war zu nervös, um sich zu entspannen.

Gegen Mittag klingelte Yulanda. Sie erkannte sofort, dass etwas mit ihm nicht stimmte.
„Ich bin gelb“, sagte er, nachdem sie mehrmals nach einem Grund gefragt hatte.
„Du bist was?“ Sie lachte. „Mein kleiner Gelbfink!“
„Gelb“, antwortete Gregor. Er sah sie verzweifelt an. „Am ganzen Körper. Schau!“
Und in diesem Moment bemerkte er, wie ihr Orange auf ihn überging. Auf einmal nahmen seine Finger die andere Farbe an, seine Arme und Beine wurden überzogen von diesem fremden Grundton.
Er erhob sich und ging zum Fenster. Unter ihm, auf der Straße, liefen Menschen mit Einkaufstüten zu ihren Wohnungen. Andere unterhielten sich, gestikulierten mit ihren Händen. Und überall gingen die unterschiedlichen Farben ineinander über. Bei einigen erreichten sie nur die Arme. Andere wechselten komplett den Ton.
Gregor rieb sich die Augen. Dann ging er zu Yulanda, der die gelben und roten und grünen Tupfer in ihrem Teint gut standen.
„Die Welt ist vielfarbig“, seufzte er erleichtert, während er seine erstaunte Freundin an der Hand nahm und die Farben ein neues Mischungsverhältnis eingingen.

Wer mag, kann jederzeit auf meiner Webseite stöbern. Man findet Leseproben, Bücher, Links zu neuen Projekten – und kann mich auch für Lesungen buchen. Siehe www.fairgefischt.de!

Matthias Kröner - Grüner Weg 44 - 23909 Ratzeburg - Tel.: 0176/32331629